Impfen?

Vor einigen Jahren las ich die autobiographischen Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss. Hier erzählte Höss eher beiläufig, dass die Nazis damals in Polen und anderen Ostgebieten massiv das Gerücht streuten, dass Impfen gesundheitsschädlich sei, um auf diese Weise die dortigen Bevölkerungen anfälliger für Krankheiten zu machen und so zu dezimieren.

Rudolf Höss (1901-1947), Quelle: wwww.wikipedia.org

Diese Episode fiel mir schon damals auf und kommt mir gerade in diesen Monaten immer wieder in den Sinn – zumal die Parolen, die damals in Osteuropa von den Nazis verbreitet wurden, heute wieder zu hören sind: Impfen ist gesundheitsschädlich, macht unfruchtbar, die Langzeitfolgen sind nicht absehbar usw.

Nicht, dass das Impfen bei den Nazis selbst völlig unumstritten gewesen wäre: Heinrich Himmler lehnte das Impfen als „widernatürlich“ ab, Julius Streicher vermutete einen jüdischen Versuch, die Welt zu vergiften. Offizielle Politik der Nazis in Deutschland war jedoch, massiv für das Impfen zu werben, um die Wehrfähigkeit des Reichs zu erhalten.

Ich will nicht unterstellen, dass heutige Impfkritiker den Nazis nahestehen. Was mir allerdings auffällt, sind die Argumentationsmuster, die wieder auftauchen.

Seitdem es das Impfen gibt, gibt es Gegner und Kritiker. Seit etwas über 200 Jahren wird geimpft (erstmals 1796 gegen die Pocken), die Kritik war eigentlich immer die gleiche: ein illegitimer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, nicht absehbare Langzeitfolgen, Sexualkrankheiten („Syphilisierung“, Unfruchtbarkeit), gewollte Vergiftung durch einen geheimen Feind (damals die Juden, heute Bill Gates).

Geimpfte werden zu Kühen, Karikatur von 1802 (Quelle: http://www.wikipedia.org)

Auf der anderen Seite stehen die erfolgreiche Bekämpfung diverser Krankheiten, die als ausgerottet gelten (Pocken) oder stark eingeschränkt wurden (Kinderlähmung, Masern, Pest, Cholera, Tuberkulose, Diphterie usw.).

Unterm Strich muss man sagen, dass die Geschichte des Impfens eine Erfolgsgeschichte ist, die vielen Millionen Menschen das Leben gerettet hat – und dessen Nichtbeachtung bis heute viele Leben kostet. Jedes Jahr sterben laut Angaben von UNICEF noch immer alleine 3 Millionen Kinder ungeimpft an Krankheiten, gegen die ein Impfstoff verfügbar wäre.

Die Geschichte des Impfens und die Geschichte ihrer Gegnerschaft muss man kennen, um die aktuelle Situation einschätzen zu können.

Durch diese Geschichte werden zwei Dinge deutlich: es hat schon immer Kritik gegeben und sie war noch nie faktenbasiert. Auffällig ist zudem, dass der Anteil der Bevölkerung, die dem Impfen sehr skeptisch gegenübersteht, in den deutschsprachigen Ländern deutlich höher ist als in anderen Ländern.

Impfen?

Was bedeutet das nun für die heutige Situation im Umgang mit Covid 19? Wie ist das Impfen zu beurteilen? Kann und darf man zum Impfen verpflichten?

Die Corona-Pandemie ist gerade in Deutschland datenmäßig sehr schlecht erfasst. Weder gibt es Daten, welche staatlichen Maßnahmen welche Wirkungen erzielten, noch gibt es genaue Daten, wo man sich eigentlich genau mit dem Corona-Virus infiziert. Dieses Defizit hat seine Ursachen in einer kaum vorhandenen Digitalisierung der Behörden (Stichwort Fax-Gerät) und in einem schlechten Krisenmanagement der Regierung.

Die Daten- und entsprechend die Faktenlage ist also ausgesprochen schlecht. In einer Sache aber ist die Datenlage eindeutig: beim Impfen.

Die Viruslast eines Nicht-Geimpften ist höher als bei einem Geimpften. Geimpfte können sich infizieren, aber deutlich seltener. Geimpfte können auch auf der Intensiv-Station landen, aber deutlich seltener.

Wenn eine Gruppe von 20% der Bevölkerung 80% der Intensivbetten belegt, dann spricht das eine deutliche Sprache. Wenn die deutschen Regionen mit niedrigen Impfquoten deutlich höhere Infektionszahlen haben, spricht das ebenfalls eine deutliche Sprache.

So liegt in diesen Tagen in Sachsen beispielsweise die Inzidenz bei Geimpften bei 64. Die der Ungeimpften bei 1823. Das Risiko, an Corona zu sterben, ist ohne Impfung 32x wahrscheinlicher.

Hier liegt bereits ein schwerer und fahrlässiger Fehler in der Kommunikation vor, wenn einzelne Politiker oder sonstige Personen es für das Infektionsgeschehen als gleichgültig bezeichnen, ob viele Menschen geimpft sind oder nicht. Der Einfluss auf das Pandemiegeschehen ist eindeutig.

Freiheit?

Die persönliche Freiheit, über sein Leben zu entscheiden, ist ein hohes Gut. Das entsprechend oft von Impfgegnern zitiert wird. Anders als oft behauptet, betrifft die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, jedoch nicht nur die Person selbst.

Spätestens die Verschiebung von Operationen in den Krankenhäusern durch die starke Zunahme von Covid-19-Patienten macht dies deutlich. Das Entscheidende hierbei ist die Möglichkeit, das Virus weiterzugeben und damit indirekt auch Leute in Gefahr zu bringen, die einem hohen Risiko ausgesetzt sind. Diese Möglichkeit gibt es zwar auch bei Geimpften, aber sie ist deutlich geringer – für die Ausbreitung des Virus entscheidend geringer.

Durch die Gefährdung anderer ist die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, nicht nur eine persönliche Entscheidung. Und hieraus ergibt sich auch eine moralische Verpflichtung, sich impfen zu lassen.

Der Hinweis auf die persönliche Freiheit verfängt nicht, da die Freiheit des einen da aufhört, wo die des anderen betroffen ist. Die Freiheit ist kein absolutes Recht – sonst würde es keine Gesetze geben, die als Gesetze immer darauf abheben, persönliche Freiheit einzuschränken, um ein gesellschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen.

Um die Gefährdung anderer zu vermeiden und durch das faktisch nicht vorhandene persönliche Risiko einer Impfung besteht eine moralische Verpflichtung sich impfen zu lassen. Entsprechend sollte diese moralische Verpflichtung auch als solche dargestellt werden. Es ist nicht gleichgültig, ob sich jemand impfen lässt, sondern es hat gesellschaftliche Konsequenzen. Dies gilt es auch zu benennen.

Es gilt aber auch: eine moralische Verpflichtung ist eine Selbstverpflichtung, keine Pflicht, die von außen durchzusetzen ist. Ist eine Impfpflicht legitim?

Impfpflicht?

Ganz offensichtlich ist das Impfen ein wirksames Mittel, die Verbreitung des Virus einzudämmen. Die ethische Frage, ob sich daraus eine Impfplicht ergeben kann, ist abhängig von 3 Kategorien:

  1. Gibt es eine Notlage, die eine solche Pflicht rechtfertigt?
  2. Wenn ja, gibt es eine Alternative, diese Notlage zu verhindern?
  3. Besteht ein persönliches Risiko?

Zu 1.) Hier in den Niederlanden und in den Teilen Deutschlands mit hohen Inzidenzzahlen müssen die Krankenhäuser bereits Operationen verschieben. Triagen sind in Österreich angekündigt. Das Verheerende ist, dass bereits ein Corona-Patient mehrere andere Operationen verhindert, da seine Liegezeit deutlich länger ist als die eines durchschnittlichen anderen Patienten, der operiert wurde. Heißt: ein Corona-Patient verhindert 3 andere Operationen.

Angesichts der sich auf den Intensivstationen verschärfenden Situation kann man von einer sich anbahnenden Notlage sprechen, die systemimmanent (mehr Betten, mehr Operationen) nicht auf die Schnelle lösbar ist. Möglicherweise wäre diese Situation durch frühere Investitionen im Gesundheitswesen vermeidbar gewesen. Aber zum einen kann man ein Gesundheitswesen nicht konstant auf eine Pandemiesituation ausrichten und zum anderen ändert das nichts an der aktuellen Situation. Und nur die zählt.

Zu 2.) Der Staat greift in das Infektionsgeschehen ein, indem er die Kontaktmöglichkeiten von Infizierten verringert. Dies tut er durch einen mehr oder weniger vollständigen Lock-Down. Nun hat sich der Lock-Down als ein sehr zweischneidiges Instrument erwiesen, das viele negative Folgen hat, die ökonomischer, sozialer und psychischer Natur sind. Einige Länder gehen dazu über, derartige Maßnahmen nur für Nicht-Geimpfte zu verhängen, andere – wie die Niederlande – führen einen mehrwöchigen „Teil-Lockdown“ für alle durch.

Nun muss eine ethische Güter-Abwägung stattfinden: Lockdown oder Impfen? Was ist das kleinere Übel? Ist es berechtigt, eine ganze Gesellschaft lahmzulegen, weil eine Minderheit sich weigert, sich zu impfen? Ist es berechtigt, jemanden, der sich nicht impfen lassen will, vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen?

Zu 3.) Impfgegner sprechen oft von einem hohen persönlichen Risiko, das mit einer Impfung verbunden ist. Sicher gibt es Nebenwirkungen und gibt es (wenige) Menschen, denen aus medizinischen Gründen von einer Impfung abzuraten ist.

Das persönliche Risiko bei einer Impfung ist als äußerst gering bis faktisch kaum vorhanden einzuschätzen. Zum einen hat der Impfstoff eine reguläre Testphase durchlaufen. Dass diese deutlich schneller war als sonst üblich hat nichts mit mangelnder Sorgfalt oder aufgeweichten Kriterien zu tun, sondern damit, dass aufgrund der einmalig hohen Finanzmittel viele Schritte und Testkapazitäten beschleunigt werden konnten. Zum anderen kann ein Impfstoff keine negativen Langzeitfolgen haben. Er hat evtl. Nebenwirkungen, die in den ersten Tagen auftreten (v.a. Thrombose bei Astra-Zeneca). Er kann aber keine Langzeitfolgen haben, die erst nach längerer Zeit auftreten. Da mittlerweile 7 Milliarden Impfungen verteilt wurden, dürften Nebenwirkungen bekannt sein. Neu entstehende Langzeitfolgen sind schon deshalb nicht möglich, weil der Impfstoff nach wenigen Tagen nicht mehr im Körper ist.

Ein realistisches persönliches Risiko durch die Impfung besteht also nicht.

Zusammenfassung

Ich bin kein Mediziner, ich bin Philosoph.

Ich muss mich auf die Informationen verlassen, die ich bekomme, die ich allerdings auch auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüfen kann.

Wenn die Situation so ist, wie die Medien es beschreiben und wie es auch Bekannte von mir beschreiben, die im medizinischen Bereich tätig sind, dass die Situation in den Krankenhäusern sich verschlimmert und notwendige Operationen verschoben werden müssen,

wenn es so ist, dass sich in der Bekämpfung der Pandemie kein anderes Werkzeug als so effektiv herausgestellt hat wie die Impfung (etwa gegenüber dem Lockdown und seinen Schäden),

wenn es so ist, dass bei einer Impfung faktisch kein persönliches Risiko für den Geimpften vorhanden ist,

dann ist auch aus ethischer Sicht eine staatliche Impfpflicht zu rechtfertigen, wie es sie immer wieder gegeben hat und auch heute gibt (etwa bei Reisen).

Diese Impfpflicht kann sich auf eingegrenzte Berufe oder Personen beschränken, die besonders gefährdet sind oder andere gefährden, wäre aber je nach Notlage auch für die ganze Bevölkerung begründbar.

  • Dagegen steht nicht der Hinweis auf die persönliche Freiheit, die nicht absolut ist, sondern da aufhört, wo sie die Freiheit des anderen betrifft.
  • Dagegen steht nicht der Hinweis auf ein persönliches Risiko, was offensichtlich kaum vorhanden ist und in keinem Verhältnis zum Risiko einer Infektion oder Infektionsweitergabe steht.
  • Dagegen steht vor allem nicht der Hinweis auf eine Spaltung der Gesellschaft, die gerade erst durch diese Hängepartie vorangetrieben wird. Hier ist die Rolle der verschiedenen Regierungen etwa in Deutschland oder den Niederlanden sehr kritisch zu sehen, die harte Maßnahmen gegen die ganze Bevölkerung ankündigen und anscheinend auf diese Weise den Druck auf die Nichtgeimpften erhöhen wollen, ohne eine Impfpflicht auszusprechen. Das Ergebnis ist eine Verschärfung der Spaltung – nicht durch eine Impfpflicht, sondern durch Druckaufbau ohne Impfpflicht.

Wir stehen jetzt am Beginn der 4. Infektionswelle. Die Staaten haben alles Mögliche versucht. Man kann zu Recht fragen, ob diese Versuche optimal gelaufen sind, aber nach jetzt knapp 2 Jahren Corona kann man feststellen, dass es alles nichts gebracht hat: die nächste Welle kommt immer. Die bisherigen Maßnahmen erinnern an den Versuch, ein Feuer mit drastischen Maßnahmen zu löschen, ohne dabei aber an einen langfristigen Brandschutz zu denken, der das Ausbrechen des Feuers verhindert.

Die Frage, die sich stellt: kommen wir überhaupt aus diesem ewigen pandemischen Kreislauf heraus ohne eine halbwegs flächendeckende Impfung? Angesichts der Erfahrungen der letzten beiden Jahre muss man dies verneinen. Demgegenüber stehen die Zahlen von Ländern mit hohen Impfquoten, die über deutlich geringere Infektionszahlen und deutlich geringere Sterbezahlen verfügen und deren Bevölkerungen wieder ein normales Leben führen können.

Wenn eine Notlage vorliegt und wenn sich in der Tat die Impfung als einziger Ausweg aus der Pandemie erweist, hat der Staat das Recht und vielleicht auch die Verpflichtung, eine Impfpflicht einzuführen. Dieser Eingriff in die persönliche Freiheit wäre sicherlich wichtiger und besser begründet als viele andere Eingriffe, über die sich keiner aufregt.

Interview

Herr Müller, Sie hatten die Idee, das Thema „Christliche Werte“ für Unternehmen anzubieten. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Ich arbeite nun schon seit mehr als 30 Jahren als Theologe in der sogenannten „freien Wirtschaft“. In dieser Zeit hat sich viel gewandelt im Bereich Marketing, Vertrieb, Unternehmenskultur, Führung, Mitarbeitermotivation und vieles andere mehr. Da habe ich viele Moden kommen und gehen sehen. Die meisten kamen schnell und waren noch schneller wieder verschwunden. Zurzeit stehen Themen wie „Agilität“, „Digitalisierung“ u.a. im Vordergrund. Hier wird sich viel verändern in den Unternehmen. Das verunsichert die Menschen massiv. Die „christliche Werte“ hingegen sind eine quasi überzeitliche Konstante. Sie betreffen nicht Strukturen, sondern sie betreffen den Umgang der Menschen miteinander. Ich habe in meinem Arbeitsleben erfahren, dass das konkrete „Leben“ christlicher Werte den Unternehmen und ihren Mitarbeitern gutgetan haben. Ökonomisch wie menschlich. Dazu kommt, dass ich als Moraltheologe auch die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Werte kenne und auch von hier her begründen kann, warum sie praktikabel und nützlich sein können.

Herr Rasche, auf die Anfrage von Herrn Müller hin haben Sie sich schnell entschlossen, mitzumachen. Was waren Ihre Beweggründe?

Zuerst natürlich der Grund, dieses Thema sehr gut zu kennen und auch darum zu wissen, dass es in unserer Gesellschaft einen großen Bedarf an ethischer Orientierung gibt. Das Christentum hat hier eine Botschaft, die immer noch ein sehr großes Potential entfalten kann. Wir müssen uns nicht über die Schwächen des Christentums unterhalten. Die aktuelle Krise der beiden großen christlichen Kirchen ist ja kein Zufall. Trotz allem gehört das Christentum zur kulturellen DNA Europas. Europa wurde ganz entscheidend vom Christentum mitgebaut. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass eine Orientierung an diesen christlichen Wurzeln sehr viel Gutes bewirken kann, nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Wirtschaft.

Sie waren viele Jahre katholischer Priester. Wie muss man sich Ihre Haltung gegenüber dem Christentum jetzt vorstellen? Enttäuscht oder noch immer begeistert und missionarisch?

Weder noch. Ich war 15 Jahre als katholischer Priester tätig. Diese Zeit war überwiegend sehr schön und trotzdem habe ich natürlich auch vieles in der christlichen Praxis kennengelernt, das mich immer mehr von meinem Beruf als Priester und auch von der Kirche distanziert hat. Ich bereue diese 15 Jahre nicht, aber ich habe eine bewusste Entscheidung getroffen, das Priesteramt aufzugeben. Ich hasse die Kirche nicht, weil sie mir eine Zeit meines Lebens geraubt hätte, aber ich missioniere auch nicht für sie. Es geht mir nicht um Mission, sondern um Information.

Wenn Sie nicht missionieren, worum geht es Ihnen dann?

Ich vertrete ein bestimmtes Menschenbild, das vom Christentum und von der Europäischen Aufklärung geprägt ist. Das Christentum beschreibt den Menschen in seiner unverlierbaren Würde, die Europäische Aufklärung beschreibt den Menschen als Wesen, das in der Lage ist, selbstbestimmt zu leben und seine Vernunft zu gebrauchen. Als Priester und als Professor für Philosophie bin ich mit beiden Traditionen mehr als vertraut: Ich habe sie erforscht, gelehrt und gelebt. Und das möchte ich weitergeben, weil diese Traditionen auch heute wichtige Orientierung geben können: gesellschaftlich wie unternehmerisch.

Herr Müller, Sie haben ja mehrere Jahre im Marketing gearbeitet. Sind christliche Werte marketingtauglich?

Eine Binsenweisheit des Marketings lautet „All business is personal“. Es geht um die Menschen und ihre Bedürfnisse. Wer erfolgreich Marketing betreiben will, muss die Bedürfnisse seiner Kunden kennen. Das Christentum wäre nie zur Weltreligion geworden und hätte nie 2000 Jahre überlebt, wenn es nicht elementare menschliche Bedürfnisse angesprochen hätte. Als Petrus der erste „Papst“ in Rom wurde, saßen noch die römischen Kaiser auf dem Thron. Inzwischen haben wir tausende von Herrschern weltweit erlebt – und in Rom sitzt immer noch der Papst auf dem Stuhl Petri. Wenn also eine Institution erfolgreich Marketing betrieben hat seit 2000 Jahren, sind das die christlichen Kirchen, die die menschlichen Bedürfnisse global und zu allen Zeiten erfolgreich angesprochen haben. Und sie sind immer noch erfolgreich. Man darf den gegenwärtig kümmerlichen Zustand der Kirchen in Europa nicht auf die Weltkirchen übertragen. In anderen Ländern und Kontinenten wächst die Kirche weiterhin.

Herr Müller, was ist dann genau der Inhalt, auf den es ankommt? Was macht den „Erfolg“ der christlichen Werte aus?

Die Kernbotschaft des Evangeliums ist die Nächstenliebe. Das ist die Basis jeder christlichen Ethik. Und es ist die Basis für das, was ich „gelingendes Miteinander“ nennen möchte. Das gilt im Arbeitsleben wie im Privatleben. „Nächstenliebe“ klingt ein wenig dick aufgetragen, aber dahinter steht die Grundoption, seinem Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen, ihn als Menschen nicht abzuwerten, ihm empathisch zu begegnen. Im beruflichen Kontext bedeutet dies ein Miteinander mit gegenseitiger Achtung, gegenseitigem Vertrauen, Verantwortung füreinander, Ehrlichkeit im Umgang und das, was wir Theologen „Vergebung“ nennen. Wem das zu hoch gegriffen erscheint, der kann es auch Konfliktgestaltung nennen. Im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums wird das sehr anschaulich beschrieben: „Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich,
dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde“. Setzen Sie das mal in einer Firma um! Dann sind sie schon sehr weit!

Vielen Dank für dieses Gespräch!

Ethik des Coachings

Coaching ist omnipräsent. Es geht um die Steigerung der Leistungsfähigkeit und der Kompetenzen von Mitarbeitern oder Führungskräften, um die Entwicklung der Persönlichkeit, um die Entfaltung neuer Potentiale.

Dass das Coaching eine ethische Dimension hat, dürfte relativ unumstritten sein. Normalerweise wird die vorrangig bei dem verortet, der gecoacht wird: wie kann er besser ethische Werte vermitteln, an welchen Werten orientiert er sich eigentlich selbst, unter welchen Werten leidet er usw.

Mindestens genauso wichtig ist allerdings die ethische Einstellung des Coaches selbst. Und dabei geht es nicht nur darum, Mandanten abzulehnen, die Waffen produzieren oder ein Bordell besitzen, sondern ganz prinzipiell darum, welches Menschenbild der Coach eigentlich hat und wie dieses Menschenbild sich im Coachingprozess abbildet.

Natürlich hat jeder Coach auf seiner Homepage stehen, dass es ihm um den Menschen geht, dass er den Menschen helfen will, mit seinen Problemen fertig zu werden, dass es ihm um das Wohlergehen der Menschen geht usw.

Aber was heißt das? Es gilt, genauer hinzuschauen.

NLP – Neuro-Linguistisches Programmieren

Nehmen wir die wohl zur Zeit im Coaching-Bereich die am weitesten verbreitete Methode, das „Neuro-Linguistische Programmieren“ (NLP). Bereits an dem Titel des Coachings taucht ein sehr grundsätzliches Problem auf, das ethisch durchaus heikel ist:

Was heißt denn „Programmieren“?

Welches Menschenbild habe ich eigentlich, wenn ich glaube, man könnte einen anderen Menschen „programmieren“?

Sehe ich im anderen Menschen eine Maschine, die ich in einer bestimmten Weise „programmieren“ kann, damit sie wieder effizient arbeitet? Das Wort „Programmieren“ mag ja in vielseitiger Weise deutbar sein, eines ist aber eindeutig: dasjenige, was etwas einprogrammiert bekommt, ist nur ein Ding, das einen neuen Inhalt, eine neue Software erhält, “aufgespielt” bekommt.

Zu drastisch?

Das „Neuro-Linguistische Programmieren“ hat ja bereits im Titel verankert, worum es geht: um die Annahme, dass Vorgänge im Gehirn (Neuro) durch die Sprache (linguistisch) programmiert werden können.

Es ist unumstritten, dass die Sprache große Macht über unser Denken hat, aber was heißt das denn, dass ich durch die Sprache mein Denken umprogrammieren kann? Verändern: ja. Aber „umprogrammieren“? Geht das immer?

Alles ist erlernbar.

Der Dachverband des NLP ist da eindeutig: prinzipiell schon. So heißt es auf der Homepage des DVNLP:

„Alles, was ein Mensch kann, ist erlernbar. Alles ist erreichbar, wenn die Aufgabe in hinreichend kleine Schritte unterteilt wird. Die gewohnheitsmäßige Abfolge von Denk- und Verhaltensvorschriften ist änderbar. Es kommt zur Flexibilisierung und zum Neulernen.“

Neben der ethischen Frage, was da für ein Menschenbild hintersteckt, wenn der Mensch „programmiert“ werden soll: sind die Annahmen überhaupt richtig, dass „alles erlernbar“ ist? Das gewohnte Verhaltensmuster immer änderbar sind?

So einfach ist es nicht. Jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch hat seine eigene Biographie, seine eigene Identität. Die sind nicht vom Himmel gefallen, sondern im Laufe eines Lebens gewachsen. Natürlich kann ein Mensch sich im Laufe seines Lebens ändern, aber nicht derart fundamental und radikal, wie der Dachverband des NLP dies suggeriert.

Das NLP geht davon aus, dass das menschliche Gehirn wie eine Festplatte funktioniert. Wenn es da einen Software-Fehler gibt, wird eine neue Software draufgespielt. Abgesehen davon, dass NLP damit dem Menschen keine größere Würde als die einer Festplatte zuspricht: das mit der neuen Software funktioniert nicht.

Und das ist auch gut so. Denn jeder Mensch hat seine eigene Identität und Würde, und die hat auch mit seiner Geschichte, seinen Stärken und Schwächen zu tun. An sich und seinen Schwächen zu arbeiten und in seinem Leben Veränderungen vorzunehmen: richtig. Aber alles auf den Kopf stellen zu wollen? Abgesehen davon, dass das gar nicht geht: kann man das wollen, seine Biographie auszulöschen?

Was passiert im NLP beim Re-Framing: die eigene Biographie wird aus einer neuen, positiven Perspektive betrachtet. Das ist gut und kann helfen. Aber es ist ein sehr schmaler Grat zwischen einer neuen Perspektive auf das eigene Leben, welche die Dinge positiver sieht und neue Möglichkeiten eröffnet, und einer Perspektive, die alles Negative auslöscht – was zum einen wenig Achtung vor der Biographie des Mandanten zeigt und zum anderen das Negative weiter arbeiten lässt.

Die Schwächen und Fehler gehören zum Menschen dazu. Man kann aus diesen Fehlern lernen, aber man kann nur dann aus ihnen lernen, wenn man sie erkannt und bearbeitet hat.

Es ist sehr schmaler Grat zwischen einem gelungenen Coaching, das positive Impulse setzen kann, und einem Coaching, dass den Menschen als neu zu programmierende Maschine sieht, aus der alle negativen Daten zu löschen sind. Ein sehr schmaler Grat, um den man wissen muss.

Wenn der Anspruch erhoben wird, „alles“ umprogrammieren zu können: was passiert, wenn das nicht klappt? Der Schuldige ist automatisch der Mandant, weil er es nicht kapiert oder nicht kapieren will. Was bei Menschen, die eh unter Versagensängsten leiden, durchaus verheerende Konsequenzen haben kann.

Würde des Menschen

Diese Problematik ist nicht nur beim NLP gegeben, sondern ein Grundproblem heutigen Coachings. Um nicht missverstanden zu werden: es gibt viele gute Coaches, die im Sinne ihrer Mandanten arbeiten, von der Würde des Menschen zutiefst überzeugt sind und alles dafür tun, dass es dem Mandanten gut oder wieder besser geht.

Aber eine Grundgefahr schwingt immer mit und auf die muss man aufpassen: den Menschen, so wie er ist, ernst zu nehmen. Anzuerkennen, dass die eigene Methodik – welche es auch immer sei – ihre Grenzen hat.

Und vor allem: dass auch durch noch so viel Motivation und noch so viel gedankliche Anstrengung nicht immer alles beim Menschen möglich ist.

Probleme haben zumeist Ursachen. Die kann man nicht wegdenken. Vielleicht verdrängen, aber auch nur vorübergehend. Sie bleiben und sie wirken weiter. Wegdenken ist nicht Bearbeiten.

Natürlich ist jeder dazu aufgerufen, immer wieder zu schauen, ob das eigene Leben für einen glücklich und sinnvoll ist und im Bedarfsfall auch zu schauen, was man an sich ändern muss. Ein Leben bleibt nie stehen, sondern entwickelt sich weiter.

Trotzdem hat dieses Leben auch an sich einen Wert. Ob es jetzt mit großen Fähigkeiten gesegnet ist oder nicht. Ob man sich verändern kann oder nicht.

Wahrnehmung und Wirklichkeit

Das NLP und viele andere Coaching-Methoden formulieren die These, dass die Wahrnehmung und die sprachliche Verarbeitung der Wirklichkeit die Wirklichkeit ändert.

Das ist teilweise korrekt. Wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, entscheidet darüber, wie wir sind.

Aber eben nicht vollständig:

weder ist die Wirklichkeit vollständig wahrnehmbar, noch vollständig beherrschbar,

noch ist der Mensch in der Lage, seine eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit oder sein Denken vollständig zu kontrollieren,

noch ist der Mensch in der Lage, durch seine Wahrnehmung oder sein Denken sich selbst vollständig zu kontrollieren.

Neutralität?

Das Coaching formuliert immer wieder den Anspruch, neutral zu sein.

Diese Neutralität gibt es nicht und es kann sie nicht geben.

Weil jede Methode und allgemein jeder Umgang mit einem anderen Menschen (und das ist Coaching) nie ganz neutral sein kann, sondern immer von bestimmten Voraussetzungen lebt: unter anderem von dem Bild, das ich vom Menschen an sich habe.

Und hier gibt es in Teilen der Coaching-Praxis Dinge, die ethisch sehr bedenklich sind und das Bild eines Menschen zeichnen, der letztlich als programmierbare Maschine gesehen wird, ohne Rücksicht auf seine Biographie, auf seine Fähigkeiten, auf seine Stärken und Schwächen, auf seine Identität. Und damit auf seine Würde. Diese Dinge sind leider nicht selten und sie entsprechen – wie beim NLP – auch der Ideologie, die hinter einer Methode steckt.

Was ist der Mensch?

Dieses Bild des Menschen, das die Grundlage vieler Coachings liefert, ist auch das Bild, dass sich das Unternehmen vom Mitarbeiter wünscht: arbeiten wie eine Maschine, verlässlich, effizient, allen Herausforderungen gewachsen, auf alle gewünschten Fähigkeiten trainierbar.

Viele Coaches und viele Coaching-Methoden versprechen eine solche „Programmierung“ des Mitarbeiters, und viele Unternehmen schätzen genau aus diesem Grunde solche Coaching-Prozesse.

Damit ist klar, dass das ethische Problem des Coachings letztlich ein gesellschaftliches Problem ist: Was für einen Menschen wollen wir haben? Wie soll der aussehen? Wird der Mensch auf seine Funktionalität hin und über seine Fähigkeiten definiert oder über etwas anderes?

Dies sind die großen Fragen unserer Gesellschaft. Aber es sollten auch die Fragen eines Coaches sein.