Der tote Punkt der Kirche
Vor wenigen Tagen, am 4. Juni, gab Kardinal Marx, Erzbischof von München, bekannt, dass er von allen seinen Ämtern zurücktreten will und in dieser Angelegenheit an den Papst geschrieben habe. Marx gilt als eine der mächtigsten Personen der katholischen Kirche in Deutschland. Entsprechend schlug diese Nachricht innerhalb wie außerhalb der Kirche wie eine Bombe ein.
Das Rücktrittsgesuch, das Marx veröffentlichte, hat durchaus Sprengstoff. Als wesentlichen Grund sieht er den Umgang mit dem Thema Missbrauch – sowohl durch ihn persönlich als auch durch die Katholische Kirche. Die letzten zehn Jahre, so Marx, „zeigen für mich durchgängig, dass es viel persönliches Versagen und administrative Fehler gab, aber eben auch institutionelles oder ‚systemisches‘ Versagen“. Dieses Versagen würden „manche in der Kirche“ nicht wahrnehmen wollen und daher jede Veränderung blockieren. Ihm gehe es darum, mit diesem Rücktritt persönliche Verantwortung als Amtsträger der Kirche wahrzunehmen.
Dann folgen Sätze, die durchaus als Wink mit einem ganzen Zaun an andere Amtsträger wahrgenommen werden können:
„Um Verantwortung zu übernehmen reicht es aus meiner Sicht deshalb nicht aus, erst und nur dann zu reagieren, wenn einzelnen Verantwortlichen aus den Akten Fehler und Versäumnisse nachgewiesen werden, sondern deutlich zu machen, dass wir als Bischöfe auch für die Institution Kirche als Ganze stehen.“
Was passiert da gerade in der Katholischen Kirche?
Vor wenigen Wochen war ein befreundetes Paar mehrtägig bei uns zu Besuch in Rotterdam. Leidiges Thema: Besuch = mehr schmutziges Geschirr.
Am Morgen schwang ich mich entgegen der Erwartungen aller auf und fing noch vor dem Frühstück an, das Geschirrproblem zu beseitigen. Die Bekannte, die bei uns zu Gast war, kam gerade vom morgendlichen Laufen wieder, sah mich fleißig in der Küche und entschuldigte sich, dass sie nicht geholfen hätte. Sie würde sich möglichst schnell revanchieren. „Kein Problem“, sagte ich, „ich kann auch gut eine Weile mit Deinen Gewissensbissen leben.“ Dann folgte eine sehr kluge Antwort: „Das ist sehr katholisch!“
Wir wollen jetzt nicht lange darüber nachdenken, wie sehr ich bewusst und unbewusst von meiner katholischen Vergangenheit geprägt bin. Wichtig ist hier die treffende Beobachtung eines bisherigen Prinzips der katholischen Kirche durch meine Bekannte: die Sünde nicht zu bekämpfen, sondern sich zunutze zu machen.
Vergehen von Amtsträgern wurden nicht oder eben nicht zureichend geahndet. Aus Sorge um das Ansehen der Kirche entstand eine Kultur des Versetzens und Wegsehens. Die nebenbei auch noch die Konsequenz hatte, dass die zwar intern bekannten, aber aus Gründen der „Barmherzigkeit“ nicht geahndeten Fehler Bindungen innerhalb der Amtshierarchie stärkten: ein Priester, dessen Vergehen bekannt waren, aber nicht vom Bischof geahndet wurden, fühlte sich diesem gegenüber natürlich mehr verpflichtet als je zuvor. Zumal im Fall der Fälle die Barmherzigkeit schnell zu Ende sein konnte. Die gegenseitige Abhängigkeit wird gestärkt. Der Apparat wird immer kompakter. Die Sünde nicht bekämpfen, sondern sich zunutze machen.
Die kirchliche Hierarchie wird nach innen immer gefestigter und abgeschotteter. Und nach außen? Interessiert nicht.
Was im System der Kirche fehlte und fehlt, ist die externe Kontrolle. Ein Unternehmen wird durch den Markt kontrolliert. Wenn die Fehler des Managements überhandnehmen, muss es ausgetauscht werden, weil das Unternehmen sonst wirtschaftlich kaputt geht. Die Politik wird durch den Wähler kontrolliert. Wenn Fehler der Politiker überhandnehmen, werden sie abgewählt.
Was ist die externe Kontrolle der Kirche?
Offiziell und früher besser funktionierend: Gott. Das klingt jetzt sehr spirituell und fromm, ist aber sehr konkret gemeint. Wenn ein Amtsträger der Kirche an Gott glaubt und auch daran, sich nicht nur vor seinem direkten Vorgesetzten, sondern irgendwann auch vor seinem Herrgott verantworten zu müssen, werden gewisse Fehler nicht passieren. Ganz offensichtlich ist diese spirituelle Bindung an Gott nicht mehr im früheren Ausmaß vorhanden. Auch da war nicht alles Gold, was glänzte, aber die schweren Verfehlungen von Amtsträgern haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich vermehrt.
Wenn die spirituelle Spannkraft aller Gläubigen in der Kirche nachlässt, dann geht das offensichtlich auch an den Amtsträgern der Kirche nicht spurlos vorüber, die sich ja aus den Gläubigen rekrutieren. Fragen wir mal so:
Ist es denkbar, dass ein Pfarrer daran glaubt, dass er sich irgendwann vor seinem Gott verantworten muss, wenn er schutzbefohlene Kinder jahrelang missbraucht?
Handelt ein Bischof gegenüber seinem Gott korrekt, wenn er einen solchen Pfarrer in eine neue Pfarrei versetzt, wo die Vorwürfe nicht bekannt sind? Im Wissen darum, dass es neue Opfer geben wird?
Man kann jetzt lange darüber spekulieren, wie und warum genau diese spirituelle Spannkraft vieler Amtsträger nicht mehr vorhanden ist: das Ergebnis ist eine Kirche, die sich zu wenig von außen kontrolliert fühlt. Das Ergebnis ist eine kirchliche Hierarchie, die in weiten Teilen um sich selbst kreist und der es um den eigenen Machterhalt geht. Das ist eine logische Konsequenz einer Institution bzw. einer Gruppe von Führungspersonen, die sich nicht kontrolliert fühlt.
Da eine so geleitete Kirche aus diesen Strukturen heraus überhaupt keine einschneidenden Reformen durchführen kann, kommt Kardinal Marx in seinem Brief zu der erschütternden Diagnose:
„Die Krise ist auch verursacht durch unser eigenes Versagen, durch unsere eigene Schuld. Das wird mir immer klarer im Blick auf die katholische Kirche insgesamt, nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Jahrzehnten. Wir sind – so mein Eindruck – an einem gewissen ‚toten Punkt‘.“
Dieser Punkt ist die Formulierung einer absoluten Ratlosigkeit und des Wissens, als Kirche bzw. als hierarchisch geleiteter Kirche keine Ideen zu haben, wie man aus der aktuellen Sackgasse herauskommt.
Der tote Punkt
Mit seinem Rücktrittsgesuch hat Kardinal Marx ein deutliches Ausrufezeichen in Richtung seiner Amtsbrüder gesetzt. Was der Papst oft als „Klerikalismus“ gebrandmarkt hat („Der Klerikalismus ist die wahre Perversion der Kirche.“), wird von Kardinal Marx nun deutlicher als systemisches und strukturelles Versagen der Kirche öffentlich gemacht. Es ist die brutale Frage eines der höchsten Amtsträger an sich und an seine eigene Kirche, wie ernst sie eigentlich noch ihre eigene Botschaft nimmt, wenn diese Dinge in ihr über viele Jahrzehnte geschehen konnten.
Diese Anklage deckt sich mit der Anklage gerade konservativer Kreise, dass die Kirche untergeht, weil sie nicht mehr spirituell genug ist, was so gedeutet wird: weil sie ihre alten Werte verraten hat. Das Problem hierbei besteht darin, dass genau diese von den alten Werten geprägte Spiritualität die autoritären Strukturen hervorgebracht hat, die zum Problem geworden sind.
Man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Unabhängig davon, wie gut oder schlecht diese alten Werte gewesen sind: sie funktionieren nicht mehr und jeder Versuch, sie gegen das allgemeine Wertegefühl einer Gesellschaft – und damit der Gläubigen – durchsetzen zu wollen, stärkt die autoritären Strukturen, die zur Zeit die Wurzel des Übels sind. Die Kirche steht in der Tat an einem toten Punkt.
Ein Blick nach vorne
Kardinal Marx hat mit seinem Rücktrittsgesuch den Druck auf einige Amtsträger erhöht, ebenfalls zurückzutreten. Dies gilt besonders für den Kölner Kardinal Woelki, der in seinem Bistum sehr umstritten ist und von Marx und vielen anderen als Bremse notwendiger Reformen wahrgenommen wird. Indem Marx seinen Konkurrenten Woelki mitnehmen will, will er der Katholischen Kirche in Deutschland einen personellen Neustart ermöglichen – ohne die bisherigen Platzhirsche Marx und Woelki.
Ob dieses Kalkül aufgehen wird, ist völlig offen. Woelki hat sehr schnell klargemacht, dass er nicht zurücktreten will. Zur Zeit sind zwei päpstliche Beauftragte in seinem Bistum mit Ermittlungen beschäftigt. Das Ergebnis dieser Ermittlungen ist völlig offen, kann aber durchaus Bewegung in die Personale Woelki bringen.
Letztlich muss man jedoch feststellen, dass selbst ein personeller Neustart der Katholischen Kirche in Deutschland die strukturellen Probleme nicht ändern wird. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Bätzing aus Limburg, hat vor einigen Tagen zu Recht das Problem in der Kontrolle der Amtsträger erkannt. Er forderte ein „Vier-Augen-Prinzip“ in der kirchlichen Hierarchie.
Auch dieses würde das grundsätzliche Problem der Kontrolle der Hierarchie nicht lösen. Das eine sind die handelnden Personen, das andere der Rahmen, in dem sie handeln (dürfen). Es wäre keine Kontrolle, die Anzahl der handelnden Personen zu erhöhen, es geht um den Rahmen, in den das kirchliche Amt zukünftig enger eingebunden sein muss.
Hier müssen zwei Instanzen eine zentrale Rolle spielen:
- Die „normalen“ Gläubigen: die Kirche spricht
zwar immer wieder von der priesterlichen Dimension des „Volkes Gottes“, außer
Lippenbekenntnissen und faktisch machtlosen Gremien ist aber nicht viel
passiert. Wie in den ersten Jahrhunderten der Kirche üblich, müssen die
Gläubigen das Amt kontrollieren können: wer wird Bischof, wer wird Pfarrer …
und wer soll es nicht mehr sein.
Der zur Zeit in Deutschland laufende „Synodale Prozess“ wird hier sicherlich Akzente setzen wollen, ob die in Rom genehmigt werden, ist allerdings offen. Und damit sind wir beim Kern des Problems und der Stellung der normalen Gläubigen. - Das Recht: das Kirchenrecht ist ein vorzüglicher Rechtskodex, uraltes, schönes, römisches Recht. Das Problem: das Amt steht über dem Recht. Es ist immer eine Ebene vorgesehen, in der ein Amtsträger sich nicht an das Recht halten muss, sondern „Barmherzigkeit“ walten lassen kann. Selbst grobe Rechtsverstöße von Amtsträgern und sogar päpstlichen Behörden können nirgendwo effektiv verklagt werden, weil letztlich das höchste Amt – der Papst – das Recht ist. Entsprechend gibt es kein Verfassungsgericht oder ähnliche Instanzen, die auf die Stringenz des Rechtssystems wachen. Hier muss das Amt sich zukünftig dem Recht unterordnen, um die Kirche zu einem „gerechten“ Ort zu machen.
Die Kirche befindet sich in der Tat an einem toten Punkt. An den ist sie – wie Marx zu Recht bemerkt – aus eigener Schuld gelangt. Nun ist es an ihr, diese Verantwortung wahrzunehmen – personell wie strukturell und mit eigener Kraft – wie Marx hofft – aus dem toten Punkt einen positiven Wendepunkt zu machen. Ob der Kirche das gelingt, ist noch offen.