Interview

Herr Müller, Sie hatten die Idee, das Thema „Christliche Werte“ für Unternehmen anzubieten. Wie kamen Sie auf diese Idee?

Ich arbeite nun schon seit mehr als 30 Jahren als Theologe in der sogenannten „freien Wirtschaft“. In dieser Zeit hat sich viel gewandelt im Bereich Marketing, Vertrieb, Unternehmenskultur, Führung, Mitarbeitermotivation und vieles andere mehr. Da habe ich viele Moden kommen und gehen sehen. Die meisten kamen schnell und waren noch schneller wieder verschwunden. Zurzeit stehen Themen wie „Agilität“, „Digitalisierung“ u.a. im Vordergrund. Hier wird sich viel verändern in den Unternehmen. Das verunsichert die Menschen massiv. Die „christliche Werte“ hingegen sind eine quasi überzeitliche Konstante. Sie betreffen nicht Strukturen, sondern sie betreffen den Umgang der Menschen miteinander. Ich habe in meinem Arbeitsleben erfahren, dass das konkrete „Leben“ christlicher Werte den Unternehmen und ihren Mitarbeitern gutgetan haben. Ökonomisch wie menschlich. Dazu kommt, dass ich als Moraltheologe auch die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Werte kenne und auch von hier her begründen kann, warum sie praktikabel und nützlich sein können.

Herr Rasche, auf die Anfrage von Herrn Müller hin haben Sie sich schnell entschlossen, mitzumachen. Was waren Ihre Beweggründe?

Zuerst natürlich der Grund, dieses Thema sehr gut zu kennen und auch darum zu wissen, dass es in unserer Gesellschaft einen großen Bedarf an ethischer Orientierung gibt. Das Christentum hat hier eine Botschaft, die immer noch ein sehr großes Potential entfalten kann. Wir müssen uns nicht über die Schwächen des Christentums unterhalten. Die aktuelle Krise der beiden großen christlichen Kirchen ist ja kein Zufall. Trotz allem gehört das Christentum zur kulturellen DNA Europas. Europa wurde ganz entscheidend vom Christentum mitgebaut. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass eine Orientierung an diesen christlichen Wurzeln sehr viel Gutes bewirken kann, nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die Wirtschaft.

Sie waren viele Jahre katholischer Priester. Wie muss man sich Ihre Haltung gegenüber dem Christentum jetzt vorstellen? Enttäuscht oder noch immer begeistert und missionarisch?

Weder noch. Ich war 15 Jahre als katholischer Priester tätig. Diese Zeit war überwiegend sehr schön und trotzdem habe ich natürlich auch vieles in der christlichen Praxis kennengelernt, das mich immer mehr von meinem Beruf als Priester und auch von der Kirche distanziert hat. Ich bereue diese 15 Jahre nicht, aber ich habe eine bewusste Entscheidung getroffen, das Priesteramt aufzugeben. Ich hasse die Kirche nicht, weil sie mir eine Zeit meines Lebens geraubt hätte, aber ich missioniere auch nicht für sie. Es geht mir nicht um Mission, sondern um Information.

Wenn Sie nicht missionieren, worum geht es Ihnen dann?

Ich vertrete ein bestimmtes Menschenbild, das vom Christentum und von der Europäischen Aufklärung geprägt ist. Das Christentum beschreibt den Menschen in seiner unverlierbaren Würde, die Europäische Aufklärung beschreibt den Menschen als Wesen, das in der Lage ist, selbstbestimmt zu leben und seine Vernunft zu gebrauchen. Als Priester und als Professor für Philosophie bin ich mit beiden Traditionen mehr als vertraut: Ich habe sie erforscht, gelehrt und gelebt. Und das möchte ich weitergeben, weil diese Traditionen auch heute wichtige Orientierung geben können: gesellschaftlich wie unternehmerisch.

Herr Müller, Sie haben ja mehrere Jahre im Marketing gearbeitet. Sind christliche Werte marketingtauglich?

Eine Binsenweisheit des Marketings lautet „All business is personal“. Es geht um die Menschen und ihre Bedürfnisse. Wer erfolgreich Marketing betreiben will, muss die Bedürfnisse seiner Kunden kennen. Das Christentum wäre nie zur Weltreligion geworden und hätte nie 2000 Jahre überlebt, wenn es nicht elementare menschliche Bedürfnisse angesprochen hätte. Als Petrus der erste „Papst“ in Rom wurde, saßen noch die römischen Kaiser auf dem Thron. Inzwischen haben wir tausende von Herrschern weltweit erlebt – und in Rom sitzt immer noch der Papst auf dem Stuhl Petri. Wenn also eine Institution erfolgreich Marketing betrieben hat seit 2000 Jahren, sind das die christlichen Kirchen, die die menschlichen Bedürfnisse global und zu allen Zeiten erfolgreich angesprochen haben. Und sie sind immer noch erfolgreich. Man darf den gegenwärtig kümmerlichen Zustand der Kirchen in Europa nicht auf die Weltkirchen übertragen. In anderen Ländern und Kontinenten wächst die Kirche weiterhin.

Herr Müller, was ist dann genau der Inhalt, auf den es ankommt? Was macht den „Erfolg“ der christlichen Werte aus?

Die Kernbotschaft des Evangeliums ist die Nächstenliebe. Das ist die Basis jeder christlichen Ethik. Und es ist die Basis für das, was ich „gelingendes Miteinander“ nennen möchte. Das gilt im Arbeitsleben wie im Privatleben. „Nächstenliebe“ klingt ein wenig dick aufgetragen, aber dahinter steht die Grundoption, seinem Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen, ihn als Menschen nicht abzuwerten, ihm empathisch zu begegnen. Im beruflichen Kontext bedeutet dies ein Miteinander mit gegenseitiger Achtung, gegenseitigem Vertrauen, Verantwortung füreinander, Ehrlichkeit im Umgang und das, was wir Theologen „Vergebung“ nennen. Wem das zu hoch gegriffen erscheint, der kann es auch Konfliktgestaltung nennen. Im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums wird das sehr anschaulich beschrieben: „Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich,
dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde“. Setzen Sie das mal in einer Firma um! Dann sind sie schon sehr weit!

Vielen Dank für dieses Gespräch!

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