Kirche und Missbrauch

Es ist ein Sommer-Abend in Berlin. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs hat zu einem öffentlichen Hearing geladen.

Der Abend verläuft zuerst ganz friedlich, dann erhebt sich ein Herr und es platzt aus ihm heraus: „Ihr habt mein Leben zerstört!“

Er erzählt seine Geschichte. Von seinem Leben in einem Kinderheim der Niederbronner Schwestern in Oberammergau. Wie Schwester R. ihn im Keller einsperrte, seinen Kopf gegen die Wand stieß und ihm den Arm brach. Wie sie ihn dann zu sich ins Bett holte und er sie befriedigen musste. Wie Priester, die zu Besuch waren, ihn vergewaltigten. Als er zehn Jahre alt war. Die Übergriffe begannen, als er sieben war.

Nun ist er 55 Jahre alt. Psychisch ein Wrack. Er hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich und lebt von Hartz IV. Keiner der Täter wurde belangt.

Diese Horrorgeschichte, die leider kein Märchen, sondern brutale Realität ist, steht am Anfang dieses Blogs, damit klar wird, worum es eigentlich geht, wenn es heißt, dass es Tausende Missbrauchsfälle in der Kirche gab. Es sind Tausende Leben, die bis auf den Grund ruiniert sind, und viele Leben, die aus Verzweiflung vorzeitig beendet wurden.

Aufgrund meiner eigenen kirchlichen Biographie sei erwähnt, dass es mir nicht um einen Rachefeldzug gegen die Kirche geht. Ich fühle mich als Katholik und wünsche der Kirche, dass sie diese Krise übersteht. Aber um diese Krise zu überstehen, muss man eben auch einer Wahrheit ins Auge sehen, die anzusprechen man vielleicht eine gewisse Distanz braucht, die einem als ehemaliger Amtsträger etwas leichter fällt.

Die Aufklärung des Missbrauchs, 1. Versuch

Wie konnten diese Dinge geschehen? Wie konnte eine Kirche, die sich als heilig und heilbringend versteht, zu einem solchen Sumpf werden?

Dem versucht eine Studie auf den Grund zu gehen, deren Ergebnisse in der letzten Woche der Öffentlichkeit bekannt wurden. Alleine die Entstehungsgeschichte und Arbeitsweise dieser Studie verrät viel über den Aufklärungswillen der Kirche.

Zuerst war eine andere Studie geplant. 2011 hatte die Bischofskonferenz einstimmig den Beschluss gefasst, das „Kriminologische Forschungsinstitut Hannover“ mit einer Studie über den Kindesmissbrauch durch Priester zu beauftragen. Dieses Institut unter Leitung von Prof. Christian Pfeiffer gilt als bestes kriminologisches Institut Deutschlands. Im Jan. 2013 wurde der Vertrag durch die Bischofskonferenz gekündigt. Die Begründung: unüberbrückbare Differenzen, die vor allem damit zusammenhingen, dass die Bischofskonferenz nicht nur die Personalakten nicht herausgeben wollte, sondern auch bestimmen wollte, welche Ergebnisse überhaupt veröffentlicht werden.

Christian Pfeiffer (Quelle: www.spiegel.de)

Das Institut weigerte sich, den bestehenden Vertrag zu verändern. Das Ergebnis: Kündigung.

Die Tatsache, dass man einen Vertrag mit einem Institut kündigen muss, weil dieses auf Einhaltung wissenschaftlicher Standards besteht, war natürlich ein Desaster für die Bischofskonferenz, das nicht gerade dazu beitrug, die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass glaubwürdig ein Aufklärungswille vorhanden ist.

Die Aufklärung des Missbrauchs, 2. Versuch

Dann kam der neue Auftrag an die Autoren der aktuellen Studie. Hier galt von vornherein: Kein direkter Zugriff auf die kirchlichen Akten. Die Autoren der Studie mussten Fragebögen an die Bistümer einreichen, die diese dann beantwortet haben. Soweit sie denn kooperieren wollten.

So stellten die Autoren fest, dass „sich eindeutige Hinweise auf Aktenmanipulationen“ gefunden hätten. Mehrere Bistümer, so heißt es weiter, haben „Akten- oder Aktenbestandteile mit Bezug auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger in früherer Zeit vernichtet“.

In Zahlen: es gibt 27 deutsche Bistümer. Zwei Bistümer gaben an, dass Akten bereits in früheren Zeiten vernichtet worden sind, 13 Bistümer konnten solche Vernichtungen nicht ausschließen. Außen vor blieben sämtliche Ordenseinrichtungen, die allerdings über sehr viele Heime und Internate verfügen. Alleine im Kloster Ettal sind knapp 100 Fälle publik geworden.

Der Missbrauchsbeauftragte der DBK: Bischof Ackermann (Quelle: www.katholisch.de)

Zusammenfassend lässt sich sagen: die aktuelle Studie genügt zum einen nicht den wissenschaftlichen Kriterien der Neutralität, da der Täter, der untersucht wurde, die Informationen kontrollierte, die verarbeitet wurden. Zum anderen sind entscheidende Bereiche, in denen Missbrauch nachweislich passierte, völlig außen vor geblieben.

Vor diesem Hintergrund muss man die aktuell veröffentlichten Zahlen zur Kenntnis nehmen, die erschreckend groß sind, aber wohl nur ein Bruchteil der realen Zahlen:

Zwischen 1946 und 2014 sind 1670 Kleriker in Deutschland als Täter kirchlich aktenkundig geworden. 3677 Kinder und Jugendliche sind als mutmaßlichen Opfer erwähnt. Wie viele sind nicht erwähnt?

Um diese Zahlen einzuordnen: 2011 wurde in den wesentlich kleineren und weniger katholischen Niederlanden eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben, die eine Opferzahl von knapp 20.000 Kindern und Jugendlichen ermittelte.

Diese Problematik ist nicht nur in der deutschen oder niederländischen Kirche vorhanden, sondern ein weltweites Problem (bis in den Vatikan hinein, dessen Nr. 3, Kardinal Pell, gerade in Australien auf der Anklagebank sitzt). Untersuchungen aus verschiedenen Ländern zeichnen alle das gleiche erschreckende Bild: massiver Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und anschließende Vertuschung durch kirchliche Stellen bis in die höchsten Ebenen hinein.

Die Fundamente

Der massive Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche hat das Potential, die Kirche in ihren Fundamenten zu erschüttern, da es an zwei Grundpfeiler rührt, auf denen die Kirche in ihrer Lehre steht: an der Sexualmoral und am Amtsverständnis.

Quelle: www.zeit.de

Um die Tragweite noch einmal zu begründen: Laut Studie sind in den letzten Jahrzehnten mindestens (!) 5,1% der Diözesanpriester als Missbrauchstäter auffällig geworden. Das ist mindestens jeder 20. Priester.

Diese Quote ist um ein Vielfaches höher als diejenige, die von Forschern für die Normalbevölkerung veranschlagt wird.

Wenn die Quote innerhalb der Priesterschaft derart höher ist als in der Normalbevölkerung, dann ist eines nicht zu leugnen: es ist kein Zufall, sondern hat Gründe. Man muss als Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass sowohl die sexuelle Lebensform der Priester als auch die Machtstruktur der Kirche dafür verantwortlich sind, dass Missbrauch in diesem Ausmaß passiert.

Sexualmoral

Psychologen wie Wunibald Müller, der seit Jahrzehnten deutschlandweit Priester psychologisch betreutet, gehen davon aus, dass 20-30% der Priester homosexuell veranlagt sind. Eine ähnlich hohe Quote lebt vermutlich in einer heterosexuellen Beziehung. Dazu die überdurchschnittlich hohe Quote von Missbrauchsfällen.

All dies zeigt: die Unterdrückung von Sexualität bzw. die offizielle Geringschätzung von Sexualität (die auf den ehelichen Zeugungsakt reduziert werden soll), funktioniert nicht und führt entweder zu einem verborgenen Zweitleben der Priester oder gar zu verbrecherischen Handlungen an Schutzbefohlenen.

Machtstruktur

Hier gilt es zwei Aspekte zu beachten: zum einen die Macht des Priesters in seiner Gemeinde oder in seinem Umfeld. Dieses Faktum war sicherlich in früheren Jahrzehnten deutlicher als heutzutage: der Priester ist eine Vertrauensperson und das, was er macht, ist erst einmal richtig und „heilbringend“. Jahrzehntelang konnten Kinder missbraucht werden, weil sie den Priestern oder Ordensleuten vertraut waren und nicht auf die Idee kamen, dass diese Menschen auch zu Verbrechern werden können. Dies ging soweit, dass Eltern oft ihren Kindern nicht geglaubt haben, wenn diese von derartigen Dingen erzählten.

Quelle: www. tagesspiegel

Der zweite Aspekt betrifft die Machtstruktur der Kirche als Ganzer. Jede Macht, die nicht kontrolliert wird, entgleitet. Deshalb gibt es in der Demokratie die Gewaltenteilung.

In der Kirche gibt es eine solche Gewaltenteilung nicht und deshalb hat sich eine klerikale Machtstruktur herausgebildet, die von außen geradezu unangreifbar ist. Diese Unangreifbarkeit kann in bestimmten Situationen sogar Vorteile bieten – man denke etwa an die Herausbildung sehr widerstandsfähiger Strukturen der Kirche in Diktaturen oder in kommunistischen Ländern des Ostblocks.

Es gibt aber auch eine Schattenseite dieser Unangreifbarkeit, die dann zutrage tritt, wenn es darum geht, Versagen von Teilen der Machtstruktur aufzuklären. Es kommt zu Vertuschungen, Priester werden nur versetzt, aber nicht gefeuert, Anschuldigungen zum Missbrauch werden als „bloßes Geschwätz“ abgetan, Bischöfe werden öffentlich von Stellen des Vatikans gelobt, wenn sie nicht mit der Staatsanwaltschaft kooperieren, Opfer werden wie Störenfriede behandelt.

Was ist zu tun?

Die Kirche wird sehr massiv an sich arbeiten müssen, um diese Krise zu überstehen. Als erstes muss sie sich klarmachen, dass diese Krise nicht zufällig in ihr passierte, sondern aufgrund ihrer Sexualmoral und ihrer eigenen Struktur eine logische Konsequenz war.

Die Kombination einer Sexualmoral, die viele überfordert, und einer Machtstruktur, die nach außen intransparent ist, weil sie nicht nach außen verantwortlich ist, muss dazu führen, dass 1. massive Verstösse gegen die Sexualmoral passieren, die dann 2. in nicht angemessener Weise intern aufgearbeit werden.

Quelle: www.zeit.de

So, wie die Kirche leibt und lebt, mussten diese Dinge passieren. Dieser brutalen Wahrheit muss sich die Kirche stellen und kann dann erst effektiv und vor allem glaubwürdig einen Neuanfang machen.

Eine Nichtbearbeitung dieser Strukturen führt nicht nur dazu, keine Glaubwürdigkeit herzustellen, sondern – viel schlimmer – dazu, dass die Missbrauchsfälle weitergehen. Der massive Missbrauch ist nicht nur eine Vergangenheitsbewältung, sondern auch eine Gegenwartsbewältigung, denn in den aktuellen Strukturen muss der Missbrauch weitergehen. Es braucht nicht nur einen reumütigen Blick nach hinten, sondern einen ethischen und strukturellen Neuanfang.

Damit dieser Neuanfang gelingt, braucht es eine andere Haltung als bisher: nämlich die Haltung, die aus dem Wissen erwächst, dass man Fehler macht und man auch als Kirche Schuld auf sich laden kann.

In dieser Haltung können glaubwürdig die Dinge erfolgen, die bitter nötig sind: ein Nachdenken über die Sexualmoral, ein Nachdenken über die Lebensform der Priester, die eigenen klerikalen Machtstrukturen, eine umfassende Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, ein angemessener Umgang mit den Opfern, der Wille, mit der Staatsanwaltschaft und mit neutralen Stellen zusammenzuarbeiten, die Entfernung von Tätern aus den eigenen Reihen usw.

Es sind viele Kleinigkeiten, aber auch die großen, grundsätzlichen Dinge, mit denen die Kirche Glaubwürdigkeit und Vertrauen zurückgewinnen muss. Dies ist aber notwendig, weil dieser riesige Skandal, schutzbefohlene Kinder und Jugendliche durch eigene Amtsträger missbraucht zu haben, nicht verziehen werden wird.

Es ist eine urchristliche Lehre: Vergebung nur nach glaubwürdiger Reue. Hier liegt die große Aufgabe der Kirche. Und Reue heißt auch: Handeln.

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