Die Krise der katholischen Kirche. Teil II: Selbstblockade.

Im 1. Blog über die Krise der Kirche ging es um die „Anti-Vernunft“, um die Herausbildung einer Vernunft, die sich von der „normalen“ öffentlichen Vernunft getrennt hat.

Bis zum Ende des Mittelalters waren religiöse und allgemeine Vernunft identisch. Diese Einheit zerbrach, die Welt entwickelte sich weiter, die allgemeine Vernunft galoppierte voran, die Wissenschaften entlockten der Welt immer mehr Geheimnisse – und die Kirche ging in Opposition zur Welt, weil die neuen Welterklärungen nicht mehr ihre waren. Mit allen Konsequenzen für ihr Standing in der Welt, aber auch mit allen Konsequenzen für einen Gott, der für die meisten Menschen aus der Welt verschwand und immer weniger wahrnehmbar wurde.


Unfehlbarkeit

Dieser Kampf gegen die weltliche Vernunft wurde von der Kirche mit allen Bandagen geführt. Höhepunkt dieses Kampfes ist die Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit. Die noch einmal das Problem verschärfen sollte. Bis heute.

Pius IX. (1846-1878), Quelle: www.wikipedia.org

1862 veröffentlichte Papst Pius IX. den „Syllabus errorum“. In ihm wird eigentlich alles verurteilt, was man mit einer modernen Welt verbindet: Menschenrechte, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, Demokratie, Liberalismus, Vernunft und Fortschritt usw.

Wenn nun die Kirche ihr eigenes geistiges Leben, ihre Vernunft, als Gegensatz zur weltlichen Vernunft definiert, rückt automatisch die Frage in den Vordergrund: wie sieht dieser Gegensatz aus? Wer definiert die kirchliche Vernunft?

Wenige Jahre später kam die klare Antwort: der Papst.

1870 beschloss das I. Vatikanische Konzil mit nicht unumstrittenen Begleiterscheinungen (ein großer Teil der Teilnehmer war vor Beschlussfassung aus Protest abgereist) das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit.

Dieses von Pius IX. verkündete Dogma bedeutet im Kern Folgendes: Der Papst hat die Macht, unfehlbare Glaubenswahrheiten zu verkünden, muss sich dabei aber rückversichern, den Konsens der Gesamtkirche auszudrücken (= sog. „außer“-ordentliches Lehramt). Wobei diese Rückversicherung an die Gesamtkirche auch darin bestehen kann, eine interne, handverlesene Theologenkommission zu beauftragen, die den Konsens der Kirche feststellt.


Dieses Dogma wurde noch einmal verschärft Ende des 20. Jahrhunderts durch Johannes Paul II. (in Zusammenarbeit mit Josef Ratzinger). 1994 und 1998 sprach Johannes Paul II. im Zusammenhang mit der Frage des Frauenpriestertums nicht nur dem „außer-ordentlichen“, sondern auch dem „ordentlichen“ Lehramt (also ohne ausdrückliche Einbeziehung der Gesamtkirche) das Recht zu, definitive und unfehlbare Aussagen zu tätigen.

Damit war faktisch jede lehramtliche Äußerung des Papstes unfehlbar.

Was bedeutet das strukturell?

Völlige Selbstblockade. Wesentliche Neuerungen der katholischen Lehre sind damit unmöglich: wenn ein Inhalt als unfehlbar dargestellt wird, kann er nicht korrigiert werden. Sämtliche Reformbemühungen, die es seither gab, können sich also nur in einem sehr engen und sehr kleinen Rahmen abspielen, der immer enger werden muss.

I. Vatikanisches Konzil 1870, Quelle: www.wikipedia.org

Genau das ist auch beabsichtigt: es geht darum, einen Status quo gegen jede Neuerung zu bewahren. Pius IX. verabschiedete 1870 das Dogma, um so böse Dinge wie Gewissens- und Religionsfreiheit, Liberalismus und Fortschritt zu bekämpfen, die er wenige Jahre zuvor im sog. „Syllabus errorum“ verurteilt hatte. Johannes Paul II. führte die Verschärfungen ein, um das Verbot der Priesterweihe von Frauen zu sichern, das immer mehr hinterfragt wurde („Ordinatio sacerdotalis“, 1994).

Mit anderen Worten: die Blockade von Neuerungen ist nicht nur ein Effekt der Unfehlbarkeit, sie ist das Ziel.

Wenn eine Organisation in eine Krise oder in eine Schieflage gerät, dann setzen sich ein paar kluge Köpfe zusammen und überlegen, warum es diese Krise gibt und wie man ihr entkommen kann. Das passiert auch in der katholischen Kirche. Immer wieder treffen sich kluge Köpfe in Versammlungen und Synoden und beraten über die Krise.

Nur: die Ergebnisse und damit verbundenen Veränderungsvorschläge haben keine Chance, aufgenommen zu werden. Das wird auch bei dem aktuellen „Synodalen Weg“ der deutschen Kirche der Fall sein. Die Ergebnisse haben keine Chance, aufgenommen zu werden, weil die Kirche unfähig ist, ihre Strukturen zu verändern.


Wer entscheidet? Gar keiner!

In dieser selbstblockierenden Unfehlbarkeit der Kirche tritt noch ein weiterer Effekt zutage, der zuerst überraschend klingt: es entscheidet keiner.

Natürlich entscheidet das Lehramt in den Dingen des Alltags: wer wird Bischof, wer nicht usw. Das Unfehlbarkeitsdogma führt aber dazu, dass in den wichtigen, grundsätzlichen Dingen keiner entscheidet, weil keiner entscheiden kann.

Johannes Paul II. (1978-2005), Quelle: www.wikipedia.org

Achten wir auf die Begründung:

1994 spricht Johannes Paul II. davon, dass Frauen nicht zum Priester geweiht werden dürfen, weil dies bisher nie getan wurde und er als Papst nicht die Macht hat, etwas anderes zu tun.

Wenn vergangene Entscheidungen unfehlbar sind, kann ich sie in der Gegenwart nicht ändern.

Diese Begründung zieht sich eigentlich bei allen lehramtlichen Äußerungen durch, die die wesentlichen Forderungen auf Veränderungen in der Kirche betreffen: Tut mir leid, war immer so in der Kirche, können wir nicht ändern.

Damit entscheidet faktisch keiner.

Moralische Unfehlbarkeit

Die Kirche ist unfehlbar und mit ihr das Amt, das die Kirche als Ganze repräsentiert: das Papstamt. Dieses Papstamt regelt sämtliche Abläufe in der Kirche, und diese Abläufe bzw. die Amtsträger wie die Bischöfe, die diese Abläufe garantieren, sind damit in einer gewissen Weise Teil dieser Unfehlbarkeit und völligen Sündenlosigkeit.

Darum kann ein Bischof auch keine Fehler in der Missbrauchsgeschichte machen.
Darum kann ein Kardinal Müller in einem Satz sagen, das Gutachten nicht gelesen zu haben, aber trotzdem von Ratzingers Unschuld überzeugt zu sein.

Darum kann noch nicht einmal ein Priester als Amtsträger Missbrauch betreiben, sondern nur das Menschliche in ihm.

Benedikt XVI. (2005-2013), Quelle: www.wikipedia.org

Darum wird man nie erleben, dass ein Josef Ratzinger nicht nur ein Bedauern, sondern eine persönliche Schuld gegenüber den Opfern feststellt.

Kein Bischof und kein Papst hält sich selbst als Person für unfehlbar (hoffe ich zumindest). Aber sie sehen sich als Teil eines unfehlbaren Systems. Hieraus ergibt sich die völlige Unfähigkeit, innerkirchliche (und damit persönliche) Ursachen für ein Versagen zu erkennen und damit überhaupt moralische Verantwortung wahrzunehmen.

Wahlweise sind der Zeitgeist, der Teufel, die Medien, die Moderne an sich oder sonst wer schuld.

Aber nicht das kirchliche Amt oder eine Person als Amtsträger.


Doppelte Unfähigkeit

Die Kirche hat sich innerlich festzementiert. Die Kirche ist unfehlbar, und ein streng von oben nach unten durchorganisierter Apparat wacht darüber, dass keine Veränderungen passieren können, da jede wesentliche Veränderung ein Angriff auf die Unfehlbarkeit ist.

Dieser Zement hält die Kirche zusammen und macht sie von außen nahezu unangreifbar. Aber dieser Zement tötet jedes geistige Leben, jeden intellektuellen Aufbruch, jeden gläubigen Neuanfang.

Aus der Unfehlbarkeit ergibt sich eine doppelte Unfähigkeit:

  • die Unfähigkeit, die Vergangenheit zu sehen: vergangene Fehler können nicht benannt werden und damit kann auch keine Verantwortung wahrgenommen werden;
  • die Unfähigkeit, die Zukunft zu gestalten: neue Fragen und neue Problemlagen können nicht angemessen bearbeitet werden.

Die katholische Kirche befindet sich in einer Selbstblockade. Dies müssten nicht nur diejenigen bedauern, die sich Reformen wünschen, sondern auch diejenigen, die konservativ und eigentlich gegen Reformen sind. Denn auch wenn jemand glaubt, dass die Kirche keine wesentlichen strukturellen Veränderungen braucht, muss er ein Interesse an einem regen geistigen Leben der Kirche haben. Auch alte Tradition müssen immer wieder neu mit Leben gefüllt werden.

Fazit

Das Unfehlbarkeitsdogma hat die Kirche in eine Selbstblockade geführt. Es wird zwar darauf verwiesen, dass diese Unfehlbarkeit letztlich die Unfehlbarkeit der gesamten Kirche und aller Gläubigen ist, zugleich wird aber gesagt, dass nur das römische Lehramt die Möglichkeit hat, diese Unfehlbarkeit der gesamten Kirche festzustellen.

Unabhängig von der Frage, wer in der Kirche jetzt unfehlbar ist: die Unfehlbarkeit als solche ist bereits ein Problem. Natürlich muss eine Religion auf einen Wesenskern verweisen, der sie definiert und konstituiert – das ist aber keine Unfehlbarkeit, denn die bedeutet ja die Fähigkeit, diesen Wesenskern in Gesetze zu gießen. Das kann auf Dauer nur zu einem Fundamentalismus und zu einer Selbstblockade führen.

Als in Antike und Mittelalter die kirchliche Vernunft sich noch eins fühlte mit der allgemeinen Vernunft – Theologie und Philosophie waren eins -, hat die Kirche sehr genau darum gewußt, ihren Wesenskern nicht in Buchstaben und Gesetze gießen zu können. So formulierte etwa das IV. Laterankonzil 1215, dass “jede Aussage über Gott diesem eher unähnlich als ähnlich sei”. Diese Haltung wurzelte in einem Respekt vor dem göttlichen Geheimnis bzw. im Bewusstsein, nicht mit Gott identisch zu sein. Von dieser Bescheidenheit hat die unfehlbare Kirche Abschied genommen und erklärt jede ihrer lehramtlichen Äußerungen und Handlungen zu faktisch unfehlbaren Aussagen und moralischen Geboten.

Um diesen Vorgang, den Wesenskern der Kirche zu Gesetzen zu machen und damit zu moralisieren, geht es im 3. Blog und letzten Blog der Reihe “Die Krise der Kirche, Teil III: die Moral”.

Die Krise der katholischen Kirche. Teil I: Anti-Vernunft

Ich war 15 Jahre lang tätig als katholischer Priester. Als solcher ist mir damals natürlich nicht der besorgniserregende Zustand der Kirche entgangen: immer leerer werdende Kirchen, immer weniger Priester, massenweise Kirchenaustritte, Gemeindeschließungen usw. Diese Krise hat sich in den letzten Jahren noch einmal verschärft durch die mangelhafte Aufarbeitung der vielen Missbrauchsfälle. Aus einer Krise wird immer mehr eine Existenzfrage.

Diese Symptome habe ich damals natürlich wahrgenommen und versucht zu verstehen – auch als Professor für Philosophie: warum gibt es diese Krise und was bedeutet sie für die Kirche?

An einem bestimmten Zeitpunkt habe ich damals entschieden, das Priesteramt aufzugeben. Das zeugt nicht gerade von Optimismus und hat in der Tat wesentlich mit dem zu tun, was ich gesehen, gelesen und gedacht habe. Es sind drei Grundelemente, die ich für die aktuelle und lebensbedrohende Krise der Kirche verantwortlich mache:
1. Anti-Vernunft,
2. Selbstblockade,
3. Moral.

Diese drei Elemente werde ich jeweils in einem Blog näher erläutern, so dass diese dann den Dreiteiler „Die Krise der katholischen Kirche“ bilden. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht um eine Abrechnung gegenüber der Kirche. Ich bin vielleicht nicht allzu optimistisch, was ihre Zukunftsaussichten betrifft, aber wenn sie welche hat, dann muss sie in der Lage sein, das abzustellen, was sie in ihre jetzige Situation gebracht hat.


1. Unvernunft

Was ist das große Problem?

Wenn es darum geht, Reformen zu benennen, die die Krise beenden sollen, werden gewöhnlich folgende Dinge genannt: Änderungen im Verständnis des Priesteramts (Zölibat, Frauenpriestertum) sowie Änderungen in der zentralistischen Struktur der Kirche (Papstamt, Bischöfe).

Unabhängig davon, ob diese Forderungen an sich berechtigt sind, muss man feststellen, dass sie auf evangelischer Seite verwirklicht sind – ohne dass es ihr wesentlich besser gehen würde. Die Krise der katholischen Kirche kann daher nicht nur mit Fragen des Priesteramts oder des Papstamtes zu tun haben, sondern muss tiefer sitzen.
Die Krise, unter der gleichermaßen die evangelische wie die katholische Kirche leidet, ist damit weniger eine Krise der Institutionen, sondern vielmehr eine des Glaubens: die Leute glauben nicht mehr an Gott, also gehen sie nicht mehr in die Kirche.
Gerade von konservativer Seite wird gerne auf diesen allgemeinen Glaubensverlust hingewiesen, weil er anscheinend impliziert: wir müssen uns nicht ändern, wir müssen die Leute nur wieder neu missionieren, damit sie wieder glauben.
So einfach ist es nicht.

Warum glauben die Leute denn nicht mehr?

Es hat nichts mit dem Verhalten von Papst oder Bischöfen zu tun. Auch wenn die aktuellen Missbrauchsgeschichten ein harter Tobak sind: moralisch zweifelbare oder verwerfliche Gestalten in hohen kirchlichen Ämtern hat es schon immer gegeben. Die Leute haben trotzdem an Gott geglaubt und die Kirchen waren trotzdem voll.
Also: warum glauben die Leute nicht mehr?

Wann die Krise begann …

Wenn man ein Problem genau erkennen will, ist es oft hilfreich, auf die Zeit zu schauen, in der das Problem noch nicht bestand und sich dann die Entstehung des Problems genau anzuschauen.
Wann war das?

Um auf Nummer Sicher zu gehen, schauen wir weit zurück in eine Zeit, die vor Glauben gerade übersprudelte: das Mittelalter.

Der Mensch des Mittelalters war ein zutiefst gläubiger Mensch. Eine derartige Einheit von Glaube, Kirche und Gesellschaft war einmalig. Der Mensch fühlte sich jeden Tag vom Wirken und von der Magie Gottes umgeben. Dass es Gott nicht gibt, war für ihn undenkbar.
Am Ende des Mittelalters beginnt dies allerdings zu bröckeln.

Über die Ursachen kann man jetzt lange spekulieren (oft wird die Pest genannt), wichtig ist: die Einheit zwischen christlichem Glauben und allgemeiner Weltsicht wird in Frage gestellt. Richtungweisend sind hier Wilhelm von Ockham (1288-1347) und die Nominalisten und ihre Fundamentalkritik an der bisherigen Erkenntnislehre.
Es geht letztlich darum, dass das Wissen über die Welt nicht aus überlieferten Begriffen oder der Theologie kommen kann, sondern aus der Welt selbst bzw. den Mitteln der Logik, mit denen die Welt beurteilt wird.
Quelle aller Erkenntnis ist nicht mehr Gott, sondern die Welt. Die tiefe Einheit von Philosophie und Theologie, die jahrhundertelang gehalten hatte, war zerstört.

Das klingt etwas abstrakt und wenig konkret, war aber ein revolutionärer Einschnitt in die geistige Welt Europas.

Wilhelm von Ockam (Quelle: www.wikipedia.org)

Bis dahin galt: die Welt ist Schöpfung Gottes, und von dem, was wir von Gott wissen, schließen wir auf die Welt. Gott war sozusagen das Gesetz, nach dem die Welt funktionierte, Gott war die „Logik“, nach der Welt beschreibbar war: „Im Anfang war der Logos.“

Das hörte nun auf: „Es ist kindisch zu sagen, ich kenne Schlussfolgerungen, weil Gott sie kennt und ich ihm glaube“, so Ockham kritisch. Die Theologie war auf einmal keine Wissenschaft mehr.
Was in der Welt passiert, hat nun irdische Ursachen und die muss man zur Kenntnis nehmen, wenn man die Welt verstehen will. Das war nun Wissenschaft.

Die Kirche versuchte dagegenzuhalten und nahm den Kampf auf, der zu einem Kampf gegen die Wissenschaft wurde. Galileo Galilei lässt grüßen.


Die Aufspaltung der Vernunft

Was war nun das Gravierende an dieser Entwicklung?
Es war nicht die Tatsache, dass die Kirche nicht mehr den Anspruch erhebt, Naturgesetze besser zu kennen als Physiker.

Es ist die Aufspaltung der Vernunft.

Gott als Schöpfer (Quelle: www.wikipedia.org)

Die Kirche begann immer mehr zu unterschieden zwischen der „Vernunft der Welt“ und der „Vernunft des Glaubens“. Beide gehören unterschiedlichen Bereichen an.
Die Vernunft der Welt funktioniert nach der Welt. Wissenschaft. Fortschritt. Mode.
Die Vernunft des Glaubens funktioniert anders. Nach der Bibel. Nach der Kirche. Nach der Beziehung zu Gott.

Das Problem, das dahinter steht: diese Trennung, die im Spätmittelalter begann, führte dazu, dass Gott mit der Welt nichts mehr zu tun hatte. Bis dahin war Gott in der Welt präsent: alles, was in der Welt passierte, hatte mit Gott zu tun. Jede Sache war selbstverständlich in Beziehung zu Gott. Da stellte sich keiner die Frage, wo Gott ist.
Nun wurde Gott immer mehr aus der Welt hinausgenommen, die Beziehung zu Gott lief nicht mehr über die Welt, sondern über eine Binnenwelt, eine „Blase“, die mit der Welt nichts mehr zu tun haben wollte: die Kirche.

Die böse Welt

Diese feindselige Haltung gegenüber „der Welt“ erreichte wohl im 19. Jahrhundert den Höhepunkt, als die Päpste alle „weltlichen“ Werte wie Demokratie, Fortschritt, Wissenschaftlichkeit usw. offiziell verurteilten.

Diese Haltung ist bis heute präsent. So etwa Josef Ratzinger in einer Predigt als Erzbischof in München (31.12.1979):
„Der christliche Gläubige ist eine einfache Person. Aufgabe der Bischöfe ist es deshalb, den Glauben dieser kleinen Leute vor dem Einfluss von Intellektuellen zu bewahren.“
Kürzlich schrieben die polnischen Bischöfe einen Brief an ihre deutschen Mitbrüder von den „Versuchungen“, die darin bestehen, „die Lehre Jesu ständig mit den aktuellen Entwicklungen in der Psychologie und den Sozialwissenschaften zu konfrontieren. Wenn etwas im Evangelium nicht mit dem aktuellen Wissensstand in diesen Wissenschaften übereinstimmt, versuchen die Jünger, das Evangelium zu „aktualisieren“.“

Das Konzil von Trient (1547-1563), Quelle: www.wikipedia.org

Was diese Bischöfe völlig verkennen: diese „Aktualisierungen“ sind so alt wie die Kirche selbst.
Und sie sind notwendig. Das gesamte Grundgerüst der kirchlichen Lehre, das Amtsverständnis, die Gotteslehre, die Christologie, die Sakramentenlehre usw.: alles ist zeitgenössische Aktualisierung biblischer Texte und damit indirekte, damals aktuelle Folgerung.

Warum soll diese Aktualisierung aus dem Jahr 325 oder 1563 oder 1870 mehr Wert haben als die von 2022?

Öffentliche Vernunft und nichtöffentliche Unvernunft

Um diesen Vorgang besser zu beleuchten, ist eine bestimmte Interpretation des Vernunftbegriffs hilfreich: die öffentliche Vernunft. Diese Interpretation stammt ursprünglich aus der antiken Stoa und meint, dass sich etwas als vernünftig erweist, dass sich im Laufe der Zeit in einem allgemeinen öffentlichen Dialog herausbildet (sensus comunis). Später griff die Aufklärung diesen Begriff auf.

Was sich in dieser öffentlichen Vernunft herausbildet, das ist gültig für die Gesellschaft, sonst würde es sich nicht herausbilden. Diese Vernunft ist ständigen Entwicklungen und Moden unterworfen, sie muss ständig auf neue Fragen reagieren, sie kennt keine ewiggültigen Wahrheiten, sondern das ewige Ringen um Wahrheiten.
Aus diesem Ringen um die öffentliche Vernunft hat sich die Kirche seit dem Spätmittelalter zurückgezogen, mit Hinweis auf eine eigene, religiöse und gegenweltliche Vernunft. Eine nichtöffentliche Gegen- oder Anti-Vernunft statt eine öffentliche Vernunft. Mit schwerwiegenden Konsequenzen.
Die schwerwiegendste Konsequenz besteht darin, dass im Laufe der Jahrhunderte Gott für die Menschen immer belangloser wurde, immer weniger greifbar, immer weniger konkret.


Das Schwerwiegende ist noch nicht einmal die kirchliche Feindseligkeit gegenüber der allgemeinen und öffentlichen Vernunft. Die Feindseligkeit war mal mehr oder weniger vorhanden. Das Schwerwiegende ist bereits die Trennung.
Wie soll man auch etwas von Gott wahrnehmen, wenn er auf einmal nichts mit der Welt zu tun hat? Mit den Dingen nicht mehr greifbar ist, die uns umgeben?

Was ist zu tun?

Was ist zu tun? Was ergibt sich aus diesen jahrhundertelangen Entwicklungen?

Erst einmal: das Problem liegt tiefer als oft gedacht. Es ist nicht lösbar mit einer Aufhebung des Zölibats oder der Abschaffung des päpstlichen Zentralismus oder einem modern gestalteten Gottesdienst.
Die Kirche hat nicht nur das Problem, ihren Inhalt nicht mehr vermitteln zu können, sondern einen Inhalt zu haben, der nicht mehr vermittelbar ist.
Die Kirche muss nicht an ihrer Kommunikation arbeiten, sondern an dem, was sie kommunizieren will.

Der Inhalt der Kirche ist entstanden als die Kirche und ihr Gott Teil der öffentlichen Vernunft waren. Der Inhalt der Kirche ist formuliert mit den Begriffen der damaligen Philosophie, des Ausdrucks dieser öffentlichen Vernunft.

Wie soll dieser Inhalt heute gültig sein, wenn die begrifflichen Grundlagen nicht mehr da sind?

  • Welchen Sinn macht es, von zwei Naturen in Christus zu sprechen, wenn wir heute ein völlig anderes Verständnis von der „Natur“ einer Sache haben?
  • Welchen Sinn macht es, von „drei Personen“ in einem „göttlichen Wesen“ zu sprechen? Was heißt das und wer kann es verstehen?
  • Welchen Sinn macht es beim Abendmahl, die Gegenwart Christi als substanzhafte Präsenz zu deuten, wenn die damalige aristotelische Substanzlehre nicht mehr gültig ist?

Keiner dieser Begriffe ist biblisch. Jeder ist eine nachträgliche, zeitgenössische Interpretation. Und dieses zeitgenössische, begriffliche Beschreiben hat die Kirche ab dem Ende des Mittelalters immer mehr eingestellt mit dem Hinweis: wir sind hier und da ist die Welt.

Die Kirche muss an ihren Inhalt. Radikal.
Sie wird erst dann wieder eine Chance haben, für die Menschen gültig über Gott sprechen zu können, wenn sie versucht – wie damals – diesen Gott mit den Mitteln der jeweils gültigen öffentlichen Vernunft zu formulieren. Sie muss neue Begriffe finden, Gott zu erklären. Dann hat Gott wieder eine Chance. Und seine Kirche auch.
Die Menschen können nur an einen Gott glauben, der auch etwas mit ihrer Welt zu tun hat.

Aus dieser Trennung kirchlicher und weltlicher Vernunft ergeben sich die beiden anderen Elemente, die großen Einfluss auf die Krise haben: Selbstblockade und Moral.

Ein moralischer Selbstmord – Katholische Kirche und der Missbrauch

In der letzten Woche wurde in München ein Gutachten über den sexuellen Missbrauch im Erzbistum München der Öffentlichkeit vorgestellt. Es sind 1900 Seiten, deren Lektüre durchaus lohnenswert und bedrückend zugleich ist.

Im Brennpunkt des Gutachtens steht Joseph Ratzinger, der von 1977 bis 1982 Erzbischof in München war.
Dies ist zwar nur ein kurzer Zeitraum, aber die Bedeutung Ratzingers für die Entwicklung der Gesamtkirche, die er als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst in den letzten Jahrzehnten entscheidend geprägt hat, rückt ihn zurecht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Ratzinger hat die Regeln bestimmt, er hat bestimmt, wie die Kirche mit den Tätern und den Opfern von sexuellem Missbrauch umgeht und daher ist ein Blick auf ihn nicht nur interessant, sondern notwendig, um die Kirche der letzten Jahrzehnte verstehen zu können.

Die Stellungnahme Ratzingers

In satten 82 Seiten nimmt Ratzinger Stellung zu den gegen ihn in fünf Fällen erhobenen Vorwürfen, Priester wider besseren Wissens und teilweise trotz einschlägiger Verurteilungen wieder in der Seelsorge eingesetzt und damit dafür gesorgt zu haben, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern durch diese Priester weitergehen konnte.

Der mittlerweile 94jährige Ratzinger gilt als geistig fit – so bestätigt es zumindest immer wieder sein Umfeld und so bestätigen es auch seine Veröffentlichungen. Er selbst gibt an (S. 2), dass die Erinnerung an die zurückliegenden Sachverhalte „auch heute sehr gut ist“.

Benedikt XVI. (Quelle: www.wikipedia.org)

Ratzinger weist sehr ausführlich jede Kenntnis der ihm vorgelegten Fälle von sich.
Die Art und Weise, wie er dies tut und welche Argumente er vorbringt, ist jedoch wenig überzeugend:
– Ratzinger gibt an, an den jeweils entscheidenden Sitzung des Ordinariats nicht teilgenommen zu haben. Dies tut er auch, wenn seine Anwesenheit in den Protokollen ausdrücklich notiert ist und Referate von ihm über andere Themen in der Sitzung vermerkt sind.
In Bezug auf einen Fall hat Ratzinger mittlerweile zugegeben, anwesend gewesen zu sein, es sei aber nicht um das Thema Missbrauch gegangen.
– Ratzinger gibt wiederholt an, dass ein Hinweis in den Akten, dass er zu informieren sei, nicht bedeuten würde, dass er wirklich informiert worden sei (S. 46, S. 56)
– Ratzinger verweist in Fällen, in denen er nachweislich über Strafbefehle bestimmter Priester informiert wurde, darauf, dass er dann aber keine Information darüber erhalten habe, warum ein Strafbefehl erfolgt sei (S. 46, S. 47, S. 51)

Neben diesen nicht sehr glaubwürdigen Schutzbehauptungen tauchen auch inhaltliche Begründungen auf, die in mehrfacher Hinsicht nachdenklich machen:
– In den betreffenden Jahren nach dem II. Vaticanum sei das alte kirchliche Gesetzbuch (CIC/1917) eigentlich nicht mehr gültig gewesen (S. 59: „wurde allgemein als nicht mehr in Geltung stehend angesehen“), während das neue Gesetzbuch noch in der Entstehung war (CIC/1983). Der Zeitraum von 1965 bis 1983 wird damit faktisch als rechtsfreier Raum dargestellt. Belege für eine solche Nichtgültigkeit des alten Gesetzbuches gibt es nicht.
– Ein sexueller Missbrauch, der von einem Priester begangen wurde, wurde von ihm als Privatperson begangen und hat trotz staatlichem Strafbefehl keine Auswirkungen für sein Priestersein und stelle damit „keine Gefährdung seelsorglicher Tätigkeit“ dar (S. 48).
– Exhibitionistische Handlungen sind keine Handlungen „mit Minderjährigen“, sondern nur „vor Minderjährigen“ (S. 60) und sind damit nicht als Missbrauch zu ahnden (Hervorhebung M.R.).
– Wenn es keine direkte körperliche Berührung gibt, gibt es auch keinen Missbrauch: „Die Tathandlungen bestanden jeweils im Entblößen des eigenen Geschlechtsteils vor vorpubertären Mädchen und in der Vornahme von Masturbationsbewegungen, in einem Fall im Zeigen pornographischen Materials. In keinem der Fälle kam es zu Berührung“. Daher, so Ratzinger, sei der agierende Priester kein „Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn“. (S. 62)

Diese Äußerungen Ratzingers sind nicht abzutun als ein Einzelfall, den er hier in einer Hektik der Verteidigung unglücklich zusammengeschrieben hat. Sie sind nicht singulär, sondern entsprechen auch früheren Äußerungen von ihm und sie entsprechen auch dem kirchlichen Handeln.
Nur vor diesem Hintergrund werden Ratzingers Äußerungen wirklich verständlich: nicht als Entgleisung, sondern als logische Konsequenz persönlichen und allgemein kirchlichen Handelns der vergangenen Jahrzehnte.

Kein Bischof und kein Papst ist schuld

Die Kirche muss sich der Tatsache stellen, dass auf der ganzen Welt Priester sexuellen Missbrauch Minderjähriger betrieben haben. Persönlich schuld ist jedoch niemand.
Kein Bischof und kein Papst fühlt sich für diese Dinge verantwortlich, sei es, weil er nichts gewusst hätte oder sich nicht zuständig fühlte, sei es, weil das System Kirche insgesamt schuld ist, aber nicht er persönlich.
Dies führt dann zur Situation, dass Papst Franziskus sämtliche von deutschen Bischöfen angebotenen Rücktritte nicht annimmt, da keiner verantwortlich ist, oder dass nach Veröffentlichung des Gutachtens Kardinal Müller in Rom lapidar feststellt, dass Ratzinger nicht schuld war – ohne nach eigenen Angaben das Gutachten auch nur gelesen zu haben.
Diese vermittelte Verantwortungslosigkeit erstaunt, da sie sonst in der Kirche nicht gelebt wird und strukturell eigentlich unmöglich ist: die Kirche ist ja sehr klar und sehr hierarchisch von oben nach unten strukturiert und damit sind Macht und Verantwortung in der Kirche strukturell eindeutig verteilt. Warum nicht beim Thema Missbrauch?

Wer ist schuld?

a) Zeitgeist
Ratzinger verweist gerne auf den Zeitgeist, so immer wieder in seiner Antwort an die Münchner Anwälte. Zum einen seien derartige Taten damals noch nicht in ihrer Schwere wahrgenommen worden, und daher nicht durch das kirchliche oder staatliche Recht greifbar gewesen – was faktisch nicht stimmt, worauf auch die Gutachter hinweisen. Die Täter werden strafrechtlich verurteilt – dann ist man nicht in der Lage, ein Unrecht zu erkennen? Zum anderen wird gerne darauf verwiesen, dass es der Zeitgeist war, der die Menschen – und damit auch die Priester – „übersexualisiert“ hätte. Der Kindesmissbrauch, so Ratzinger noch ausführlich 2019 in einem Aufsatz, sei die Konsequenz der sexuellen Freiheit der 68er.

b) Medien
2002 hielt Ratzinger – damals noch Kardinal – im spanischen Murcia eine Rede, in der er die immer mehr bekannt gewordenen Fälle als Teil einer „orchestralen Kampagne“ der Medien bezeichnete, die Einzelfälle mit böser Absicht aufbauschen würde. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Entwicklung 2010 und den Ermittlungen in den USA bezeichnete der damalige Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano die Enthüllungen als „dummes Gequatsche“, Kardinal Müller die jetzigen Veröffentlichungen als „nicht überraschende“ Kampagne gegen Ratzinger.

c) Teufel
Im Februar 2019 hielt Papst Franziskus die Abschlussrede zum kirchlichen Missbrauchsgipfel im Vatikan. Der Papst blieb erschreckend nebulös und sprach vom „Bösen“, das sich gegen das Schwache richtet, und von den Priestern, die zu „Werkzeugen des Teufels“ geworden seien. Ähnlich sprach auch Ratzinger in seinem Artikel von 2019 vom Teufel, der mit seiner Macht die Kirche in Versuchung führt.

d) System Kirche
Die Häufung von Missbrauchsfällen ist nicht eine Häufung von Einzelfällen, sondern eine Folge einer bestimmten Art und Weise, wie die Kirche in ihren Machtstrukturen funktioniert: das „System Kirche“.
Auf dieses „System“ wird in den letzten Monaten verstärkt verwiesen, um die handelnden Personen als hilflose Teile des Systems zu entlasten. Abgesehen davon, dass diese Personen keineswegs „hilflose“ Teile des Systems, sondern vielmehr die bestimmenden Kräfte dieses Systems waren: „das System“ gibt es an sich gar nicht. „Das System“ ist eine hilfreiche, aber konstruierte Beschreibung von zwischenmenschlichen Handlungen. Die eben von Menschen begangen werden, die für das verantwortlich sind, was sie tun – oder nicht tun.

Ob jetzt Zeitgeist, Medien, der Teufel oder das System: es sind Versuche, die Verantwortung von der kirchlichen Hierarchie auf irgendwelche diffusen bösen Mächte abzuwälzen. Weder führt größere sexuelle Freiheit zum Missbrauch von Kindern, noch entbindet eine breite mediale Präsenz des Themas Missbrauch von der Frage, warum denn der Inhalt der Berichte leider stimmt, noch entbindet ein System diejenigen, die es leiten, von jeder Verantwortung. Den Teufel lassen wir jetzt mal außen vor, auch wenn in den letzten 20 Jahren durch Johannes Paul II. und Ratzinger die weltweite Exorzistenausbildung forciert wurde.

Letztlich sind es hilflose Versuche, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Die Verantwortung ist in der jetzigen Struktur der Kirche relativ klar geregelt und damit eindeutig auf Seiten der Bischöfe und des Papstes – die ja sonst wenig Schwierigkeiten haben, diese Verantwortung für sich zu reklamieren.

Missbrauch nicht erkannt?

Der Verweis darauf, dass man den Missbrauch damals einfach nicht richtig hat erkennen können, ist aus zwei Gründen abzulehnen:

Missbrauch wird auch heute nicht erkannt bzw. vertuscht: wenn heute Unwille, dann auch damals
Die Fähigkeit, den Missbrauch zu erkennen, aufdecken zu wollen und angemessen zu reagieren, ist auch heute nicht vorhanden – trotz mittlerweile vieler interner und externer Gutachten.

Kardinal Meisner (Quelle: www.wikipedia.org)

Dies gilt nicht nur für Ratzinger, und dies ist nicht nur Naivität und Unfähigkeit, sondern auch Unwille, der deutlich wird,
– wenn etwa Kardinal Meisner empört ausruft „Ich habe das nicht geahnt!“, er selbst aber die entsprechenden Akten über die „Brüder im Nebel“ angelegt hat,
– oder wenn der zuständige römische Kardinal Hoyos dem französischen Bischof Pican dafür dankt, nicht mit staatlichen Stellen zu kooperieren,
– oder wenn vor wenigen Wochen bei einem Prozess in Köln herauskommt, dass der jetzige Erzbischof von Hamburg und damalige Personalreferent in Köln, Stefan Heße, keine Protokolle anfertigen ließ, da diese „beschlagnahmefähig“ seien.

Wenn ein Gutachten veröffentlicht wird, äußern sich regelmäßig die Bischöfe „erschrocken“ und „überrascht“. Abgesehen davon, dass mit der steigenden Anzahl Gutachten diese Äußerungen immer weniger glaubwürdig werden: die Gutachten beruhen ausschließlich auf aktenkundigen Fällen, die die Bistümer den Gutachtern zur Verfügung gestellt haben.

Wie kann man über das überrascht sein, was in den eigenen Akten steht?

Der Verweis auf eine damalige Unfähigkeit, Missbrauch zu erkennen und ehrlich damit umzugehen, ist schon deshalb ungültig, weil auch heute die Kirche derart unter dieser mangelnden Fähigkeit leidet, dass man damals wie heute nicht von einer Unfähigkeit, sondern von einem Unwillen sprechen muss.
Damals wie heute konnte man, aber man wollte nicht.

Leid der Opfer
Der andere Grund, warum der Hinweis auf eine damalige Unkenntnis nicht verfängt, ist das offensichtliche Leid der Opfer. Und damit kommen wir zum zentralen Punkt der Anklage gegenüber der Kirche.

In der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs durch kirchliche Amtsträger geht es nicht in erster Linie um Verfahrensfragen, sondern ganz fundamental um die Frage, wie es sein kann, dass weltweit Hunderttausende Kinder missbraucht werden konnten von Menschen, die als Priester ihr Leben der Liebe Gottes versprochen haben, und diese Täter dann auch noch von der Kirche gedeckt und weiter im Dienst gehalten wurden.

Die fundamentale Anklage an die Kirche ist nicht die Frage, warum man vor 50 Jahren noch keinen Missbrauchsbeauftragten hatte, sondern die Frage, warum die Kirche wider besseren Wissens die Täter weiter gewähren ließ.

Wie kann man ernsthaft darauf verweisen, dass man damals noch nicht in der Lage war, ein Unrecht zu erkennen, wenn Kinder von Priestern vergewaltigt werden und man oft sogar ein Geständnis auf dem Tisch hatte?
Wie kann man auf die Idee kommen, dass es keine ernsthaften Auswirkungen auf das Leben eines Menschen hat, wenn er als Kind vergewaltigt wird oder einen erwachsenen Mann befriedigen muss?
Wenn man glaubte, Therapien könnten die Täter heilen, warum wurden sie dann nicht kontrolliert? Die Therapien und die Täter?
Warum war und ist der eigene Ruf immer wichtiger als die Situation der Opfer?
Wie kann man mit einer Unkenntnis über Missbrauch argumentieren, wenn das Leid der Opfer doch eigentlich sehr konkret ist?
Man muss es nur sehen wollen.

Was muss passieren?

Wahrnehmung von Verantwortung
Trotz der klaren hierarchischen Struktur der Kirche scheinen der Missbrauch sowie die Aufarbeitung des Missbrauchs in einem Verantwortungs-Vakuum zu geschehen. Es muss nun darum gehen, Verantwortung wahrzunehmen, und dies auf mehreren Ebenen:
– Zuallererst gegenüber den vielen Opfern, die auf eine angemesse Entschädigung, aber vor allem auf Anerkennung ihres Leids und auf einen respektvollen Umgang warten müssen.
– Zum anderen bedeutet Verantwortung, dass die Personen der kirchlichen Leitung, die ihrer Verantwortung damals wie heute nicht gerecht geworden sind, in ihrem Versagen benannt werden, von ihren Leitungsaufgaben entbunden werden, und sich kirchlicher und staatlicher Rechtsprechung stellen müssen.

Aufklärung
Die bisherigen Gutachten, die in Deutschland erschienen sind, haben als Grundlage die von den Bistümern an die Forscher herausgegebenen Personalakten sowie Befragungen, die auf diesen Akten beruhen. Auf dieser Grundlage benannte die MHG-Studie 3766 Missbrauchsopfer. Vergleiche mit anderen Ländern, in denen die Untersuchung deutlich breiter angelegt war, kommen auf deutlich höhere Zahlen (USA, F, NL), so dass davon auszugehen ist, dass die bisher in Deutschland benannten Zahlen nur einen geringen Teil der realen Opferzahlen abdecken.
Hier hat die Kirche die Pflicht, nicht nur durch äußeren Druck, sondern durch eigenen Antrieb die wahren Ausmaße des Missbrauchs zu ermitteln und sich dem zu stellen.

Führung
Die Nichtdurchsetzung eigener moralischer Vorschriften sowie die kollektive Nichtwahrnehmung von Verantwortung verweisen auf ein massives Führungsproblem in der Kirche.
Es stellt sich die Frage, ob die Kriterien, nach denen das kirchliche Führungspersonal ausgewählt wird, die richtigen sind. Diese Kriterien sind sehr eindeutig durch Papst Johannes Paul II. festgelegt worden und bestimmen, welche Eigenschaften eine Person haben muss, die Bischof werden soll.

Zu diesen benannten Eigenschaften gehören nicht etwa Führungserfahrung oder wirtschaftliche Grundkenntnisse, sondern beispielsweise das tägliche Tragen von Priesterkleidung, Gehorsam gegenüber dem Papst, marianisch geprägte Frömmigkeit sowie das öffentliche Eintreten für die legendäre Pillenenzyklika.
Ob diese Kriterien die richtigen sind, um das kirchliche Führungspersonal auszuwählen, das in der jetzigen Situation gebraucht wird, ist mehr als fraglich.
Hier muss die Kirche nachbessern und reflektieren, welches Verständnis von Leitung und Führung sie hat und durch welche Eigenschaften diese bestimmt sind.

System Kirche
Wenn man die Struktur der Kirche systemtheoretisch analysiert, fällt auf, dass das System Kirche ohne „normale“ Gläubige funktioniert.
Die Struktur der Kirche wird alleine durch die Gliederungen des kirchlichen Amts gesichert. Entsprechend wird die kollektive Flucht der Gläubigen aus der Kirche von den Amtsträgern achselzuckend zur Kenntnis genommen: „Wenn die Leute die Kirche verlassen, ist das ihre Entscheidung, da haben wir nichts mit zu tun“, so die Zitate der Bischöfe. In den 90er Jahren stellte Ratzinger in einem Interview über die Situation der deutschen Kirche ohne Bedauern fest, dass es in der Geschichte immer wieder vorgekommen sei, dass die Kirche in bestimmten Ländern verschwinde.
Gremien von Nichtpriestern sind nie mehr als schmückendes Beiwerk ohne jede Entscheidungskompetenz. Die letzte Entscheidung hat immer ein Priester oder ein Bischof. Dies geht hoch bis zum sog. „Synodalen Weg“, der gerade in der deutschen Kirche vorangetrieben wird: Laien und Bischöfe beraten, entscheiden tun die Bischöfe.

Diese strenggenommen auf das Amt reduzierte Struktur macht die Kirche zum einen sehr fest gegen äußere Angriffe, führt aber auch zur Entstehung einer in sich geschlossenen Kleriker-Kaste.
Hier muss die Kirche als Ganze über ihr Selbstverständnis nachdenken: Ist Kirche das Amt? Muss Kirche das Amt sein? Entspricht die Struktur des Amtes dem, was im Neuen Testament als Nachfolge formuliert wird?
Die Kirche muss sich in radikaler Form ihrem Amtsverständnis stellen. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob Priester heiraten sollen oder nicht, sondern ganz fundamental um die Frage, ob es ein kirchliches Amt geben muss, wenn ja, wie es aussehen soll, wenn nein, wie eine kirchliche Struktur ohne Amt hergestellt werden kann.

Zusammengefasst muss es für die Kirche darum gehen, sich eine Struktur zu geben, die nicht nur vom Amt, sondern von jedem Christen geprägt ist.

Compliance
Zur Sicherung ethischer und regelgerechter Abläufe in Unternehmen werden bestimmte Verfahren und Mechanismen eingesetzt, die unter dem Begriff „Compliance“ bzw. „Compliance Management System“ firmieren.
Sämtliche großen Unternehmen verfügen über derartige Systeme, um ein Grundmaß an gelebter Moral, aber auch an Seriosität und Glaubwürdigkeit abzusichern. Wichtiger Bestandteil solcher Systeme sind Hinweisgeber- bzw. Whistleblowingsysteme, durch die Regelverstöße jeder Art schnell aufgedeckt werden können.
Die Kirche wird sich für diese Systeme öffnen müssen, um nach innen und außen eine glaubwürdige Transparenz zurückzugewinnen und neues Unrecht schnell entdecken zu können.

Kirchliches Sonderrecht
Der jahrzehntelange Missbrauch Minderjähriger in der katholischen Kirche wirft auch die Frage auf, warum die staatliche Justiz hier ganz offensichtlich zu wenig Zugriff hatte.
Dies liegt einerseits sicherlich an einem gewissen (zusehends verschwindenden) moralischen Bonus der katholischen Kirche bzw. an einem gewissen Wohlwollen, das Vertreter der Justiz der Kirche entgegenbrachten.

Andererseits liegt dies aber auch an der besonderen rechtlichen Stellung, die die Kirche gerade in Deutschland innehat. Dies betrifft Besonderheiten des kirchlichen Arbeits- und Vermögensrechts, aber auch die Tatsache eines besonderen Rechtsschutzes: so sind die rechtlichen Hürden der Justiz, effektiv in der Kirche aufklären zu können (etwa durch eine Hausdurchsuchung, um Akteneinsicht zu gewinnen) deutlich höher als bei allen anderen Organisationen und Unternehmen, vergleichbar mit staatlichen Institutionen.
Diese Sonderrechte sind teilweise bereits durch den Europäischen Gerichtshof auf dem Prüfstand. Hier muss sich jedoch auch der deutsche Gesetzgeber mit Blick auf den jahrzehntelangen Missbrauch fragen, wo das kirchliche Sonderrecht einen rechtsfreien Raum geschaffen hat und wie ein solcher zukünftig zu verhindern ist.

Fazit

Das Bild, das die Kirche seit Jahrzehnten darbietet und das in seinen Konturen in der Öffentlichkeit immer deutlicher wird, ist ein Bild des Jammers und einer völligen moralischen Selbstzerstörung.
Gerade für eine Institution wie die Kirche mit ihrem hohen moralischen Anspruch ist dieses Versagen schlicht und einfach selbstmörderisch. Und dies müssen die leitenden Personen der Kirche endlich erkennen.

Man hat – handwerklich wie moralisch schlecht – versucht, den Missbrauch zu vertuschen in dem Glauben, eine reine Weste zu behalten und das Ansehen der Kirche nicht zu beschmutzen. Die äußere Fassade wurde zu einem Fetisch.

Vor einigen Tagen fragte der Journalist Zamperoni in einer Nachrichtensendung den Essener Bischof Overbeck, wie denn die Kirche ihr Ansehen wiederherstellen will.
Die Frage verrät, dass auch die Beobachter der Kirche auf diesen Fetisch des Ansehens hereinfallen. Es darf nicht primär um das Ansehen gehen, darum, wie die Kirche nach außen wirkt, sondern es muss in erster Linie darum gehen, was in der Kirche passiert. Nur auf das Ansehen zu achten, war der Grundfehler der Kirche in den Missbrauchsfällen.
Es geht um die Realität, nicht um ihre Darstellung. Und diese Realität bestand in der vieltausendfachen Ruinierung menschlicher Leben durch den sexuellen Missbrauch. An der Realität muss gearbeitet werden, nicht am Ansehen.

Die Kirche in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern taumelt ihrem Untergang entgegen, einem Untergang, an dem nicht die Gesellschaft oder der Zeitgeist oder die Sexualität der Menschen schuld sind, sondern die Kirche selbst.
Nur wenn sie dies erkennt, kann aus diesem Untergang ein neuer Aufbruch werden. Allzu optimistisch sollte man nicht sein.

Der tote Punkt der Kirche

Vor wenigen Tagen, am 4. Juni, gab Kardinal Marx, Erzbischof von München, bekannt, dass er von allen seinen Ämtern zurücktreten will und in dieser Angelegenheit an den Papst geschrieben habe. Marx gilt als eine der mächtigsten Personen der katholischen Kirche in Deutschland. Entsprechend schlug diese Nachricht innerhalb wie außerhalb der Kirche wie eine Bombe ein.

Das Rücktrittsgesuch, das Marx veröffentlichte, hat durchaus Sprengstoff. Als wesentlichen Grund sieht er den Umgang mit dem Thema Missbrauch – sowohl durch ihn persönlich als auch durch die Katholische Kirche. Die letzten zehn Jahre, so Marx, „zeigen für mich durchgängig, dass es viel persönliches Versagen und administrative Fehler gab, aber eben auch institutionelles oder ‚systemisches‘ Versagen“. Dieses Versagen würden „manche in der Kirche“ nicht wahrnehmen wollen und daher jede Veränderung blockieren. Ihm gehe es darum, mit diesem Rücktritt persönliche Verantwortung als Amtsträger der Kirche wahrzunehmen.

Dann folgen Sätze, die durchaus als Wink mit einem ganzen Zaun an andere Amtsträger wahrgenommen werden können:

„Um Verantwortung zu übernehmen reicht es aus meiner Sicht deshalb nicht aus, erst und nur dann zu reagieren, wenn einzelnen Verantwortlichen aus den Akten Fehler und Versäumnisse nachgewiesen werden, sondern deutlich zu machen, dass wir als Bischöfe auch für die Institution Kirche als Ganze stehen.“

Was passiert da gerade in der Katholischen Kirche?

Vor wenigen Wochen war ein befreundetes Paar mehrtägig bei uns zu Besuch in Rotterdam. Leidiges Thema: Besuch = mehr schmutziges Geschirr.

Am Morgen schwang ich mich entgegen der Erwartungen aller auf und fing noch vor dem Frühstück an, das Geschirrproblem zu beseitigen. Die Bekannte, die bei uns zu Gast war, kam gerade vom morgendlichen Laufen wieder, sah mich fleißig in der Küche und entschuldigte sich, dass sie nicht geholfen hätte. Sie würde sich möglichst schnell revanchieren. „Kein Problem“, sagte ich, „ich kann auch gut eine Weile mit Deinen Gewissensbissen leben.“ Dann folgte eine sehr kluge Antwort: „Das ist sehr katholisch!“

Wir wollen jetzt nicht lange darüber nachdenken, wie sehr ich bewusst und unbewusst von meiner katholischen Vergangenheit geprägt bin. Wichtig ist hier die treffende Beobachtung eines bisherigen Prinzips der katholischen Kirche durch meine Bekannte: die Sünde nicht zu bekämpfen, sondern sich zunutze zu machen.

Vergehen von Amtsträgern wurden nicht oder eben nicht zureichend geahndet. Aus Sorge um das Ansehen der Kirche entstand eine Kultur des Versetzens und Wegsehens. Die nebenbei auch noch die Konsequenz hatte, dass die zwar intern bekannten, aber aus Gründen der „Barmherzigkeit“ nicht geahndeten Fehler Bindungen innerhalb der Amtshierarchie stärkten: ein Priester, dessen Vergehen bekannt waren, aber nicht vom Bischof geahndet wurden, fühlte sich diesem gegenüber natürlich mehr verpflichtet als je zuvor. Zumal im Fall der Fälle die Barmherzigkeit schnell zu Ende sein konnte. Die gegenseitige Abhängigkeit wird gestärkt. Der Apparat wird immer kompakter. Die Sünde nicht bekämpfen, sondern sich zunutze machen.

Die kirchliche Hierarchie wird nach innen immer gefestigter und abgeschotteter. Und nach außen? Interessiert nicht.

Was im System der Kirche fehlte und fehlt, ist die externe Kontrolle. Ein Unternehmen wird durch den Markt kontrolliert. Wenn die Fehler des Managements überhandnehmen, muss es ausgetauscht werden, weil das Unternehmen sonst wirtschaftlich kaputt geht. Die Politik wird durch den Wähler kontrolliert. Wenn Fehler der Politiker überhandnehmen, werden sie abgewählt.

Was ist die externe Kontrolle der Kirche?

Offiziell und früher besser funktionierend: Gott. Das klingt jetzt sehr spirituell und fromm, ist aber sehr konkret gemeint. Wenn ein Amtsträger der Kirche an Gott glaubt und auch daran, sich nicht nur vor seinem direkten Vorgesetzten, sondern irgendwann auch vor seinem Herrgott verantworten zu müssen, werden gewisse Fehler nicht passieren. Ganz offensichtlich ist diese spirituelle Bindung an Gott nicht mehr im früheren Ausmaß vorhanden. Auch da war nicht alles Gold, was glänzte, aber die schweren Verfehlungen von Amtsträgern haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich vermehrt.

Wenn die spirituelle Spannkraft aller Gläubigen in der Kirche nachlässt, dann geht das offensichtlich auch an den Amtsträgern der Kirche nicht spurlos vorüber, die sich ja aus den Gläubigen rekrutieren. Fragen wir mal so:

Ist es denkbar, dass ein Pfarrer daran glaubt, dass er sich irgendwann vor seinem Gott verantworten muss, wenn er schutzbefohlene Kinder jahrelang missbraucht?

Handelt ein Bischof gegenüber seinem Gott korrekt, wenn er einen solchen Pfarrer in eine neue Pfarrei versetzt, wo die Vorwürfe nicht bekannt sind? Im Wissen darum, dass es neue Opfer geben wird?

Man kann jetzt lange darüber spekulieren, wie und warum genau diese spirituelle Spannkraft vieler Amtsträger nicht mehr vorhanden ist: das Ergebnis ist eine Kirche, die sich zu wenig von außen kontrolliert fühlt. Das Ergebnis ist eine kirchliche Hierarchie, die in weiten Teilen um sich selbst kreist und der es um den eigenen Machterhalt geht. Das ist eine logische Konsequenz einer Institution bzw. einer Gruppe von Führungspersonen, die sich nicht kontrolliert fühlt.

Da eine so geleitete Kirche aus diesen Strukturen heraus überhaupt keine einschneidenden Reformen durchführen kann, kommt Kardinal Marx in seinem Brief zu der erschütternden Diagnose:

„Die Krise ist auch verursacht durch unser eigenes Versagen, durch unsere eigene Schuld. Das wird mir immer klarer im Blick auf die katholische Kirche insgesamt, nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Jahrzehnten. Wir sind – so mein Eindruck – an einem gewissen ‚toten Punkt‘.“

Dieser Punkt ist die Formulierung einer absoluten Ratlosigkeit und des Wissens, als Kirche bzw. als hierarchisch geleiteter Kirche keine Ideen zu haben, wie man aus der aktuellen Sackgasse herauskommt.

Der tote Punkt

Mit seinem Rücktrittsgesuch hat Kardinal Marx ein deutliches Ausrufezeichen in Richtung seiner Amtsbrüder gesetzt. Was der Papst oft als „Klerikalismus“ gebrandmarkt hat („Der Klerikalismus ist die wahre Perversion der Kirche.“), wird von Kardinal Marx nun deutlicher als systemisches und strukturelles Versagen der Kirche öffentlich gemacht. Es ist die brutale Frage eines der höchsten Amtsträger an sich und an seine eigene Kirche, wie ernst sie eigentlich noch ihre eigene Botschaft nimmt, wenn diese Dinge in ihr über viele Jahrzehnte geschehen konnten.

Diese Anklage deckt sich mit der Anklage gerade konservativer Kreise, dass die Kirche untergeht, weil sie nicht mehr spirituell genug ist, was so gedeutet wird: weil sie ihre alten Werte verraten hat. Das Problem hierbei besteht darin, dass genau diese von den alten Werten geprägte Spiritualität die autoritären Strukturen hervorgebracht hat, die zum Problem geworden sind.

Man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Unabhängig davon, wie gut oder schlecht diese alten Werte gewesen sind: sie funktionieren nicht mehr und jeder Versuch, sie gegen das allgemeine Wertegefühl einer Gesellschaft – und damit der Gläubigen – durchsetzen zu wollen, stärkt die autoritären Strukturen, die zur Zeit die Wurzel des Übels sind. Die Kirche steht in der Tat an einem toten Punkt.

Ein Blick nach vorne

Kardinal Marx hat mit seinem Rücktrittsgesuch den Druck auf einige Amtsträger erhöht, ebenfalls zurückzutreten. Dies gilt besonders für den Kölner Kardinal Woelki, der in seinem Bistum sehr umstritten ist und von Marx und vielen anderen als Bremse notwendiger Reformen wahrgenommen wird. Indem Marx seinen Konkurrenten Woelki mitnehmen will, will er der Katholischen Kirche in Deutschland einen personellen Neustart ermöglichen – ohne die bisherigen Platzhirsche Marx und Woelki.

Ob dieses Kalkül aufgehen wird, ist völlig offen. Woelki hat sehr schnell klargemacht, dass er nicht zurücktreten will. Zur Zeit sind zwei päpstliche Beauftragte in seinem Bistum mit Ermittlungen beschäftigt. Das Ergebnis dieser Ermittlungen ist völlig offen, kann aber durchaus Bewegung in die Personale Woelki bringen.

Letztlich muss man jedoch feststellen, dass selbst ein personeller Neustart der Katholischen Kirche in Deutschland die strukturellen Probleme nicht ändern wird. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof Bätzing aus Limburg, hat vor einigen Tagen zu Recht das Problem in der Kontrolle der Amtsträger erkannt. Er forderte ein „Vier-Augen-Prinzip“ in der kirchlichen Hierarchie.

Auch dieses würde das grundsätzliche Problem der Kontrolle der Hierarchie nicht lösen. Das eine sind die handelnden Personen, das andere der Rahmen, in dem sie handeln (dürfen). Es wäre keine Kontrolle, die Anzahl der handelnden Personen zu erhöhen, es geht um den Rahmen, in den das kirchliche Amt zukünftig enger eingebunden sein muss.

Hier müssen zwei Instanzen eine zentrale Rolle spielen:

  • Die „normalen“ Gläubigen: die Kirche spricht zwar immer wieder von der priesterlichen Dimension des „Volkes Gottes“, außer Lippenbekenntnissen und faktisch machtlosen Gremien ist aber nicht viel passiert. Wie in den ersten Jahrhunderten der Kirche üblich, müssen die Gläubigen das Amt kontrollieren können: wer wird Bischof, wer wird Pfarrer … und wer soll es nicht mehr sein.
    Der zur Zeit in Deutschland laufende „Synodale Prozess“ wird hier sicherlich Akzente setzen wollen, ob die in Rom genehmigt werden, ist allerdings offen. Und damit sind wir beim Kern des Problems und der Stellung der normalen Gläubigen.
  • Das Recht: das Kirchenrecht ist ein vorzüglicher Rechtskodex, uraltes, schönes, römisches Recht. Das Problem: das Amt steht über dem Recht. Es ist immer eine Ebene vorgesehen, in der ein Amtsträger sich nicht an das Recht halten muss, sondern „Barmherzigkeit“ walten lassen kann. Selbst grobe Rechtsverstöße von Amtsträgern und sogar päpstlichen Behörden können nirgendwo effektiv verklagt werden, weil letztlich das höchste Amt – der Papst – das Recht ist. Entsprechend gibt es kein Verfassungsgericht oder ähnliche Instanzen, die auf die Stringenz des Rechtssystems wachen. Hier muss das Amt sich zukünftig dem Recht unterordnen, um die Kirche zu einem „gerechten“ Ort zu machen.

Die Kirche befindet sich in der Tat an einem toten Punkt. An den ist sie – wie Marx zu Recht bemerkt – aus eigener Schuld gelangt. Nun ist es an ihr, diese Verantwortung wahrzunehmen – personell wie strukturell und mit eigener Kraft – wie Marx hofft – aus dem toten Punkt einen positiven Wendepunkt zu machen. Ob der Kirche das gelingt, ist noch offen.

Katholische Kirche und DFB – Mechanismen der Krise

Am letzten Dienstag verlor die Deutsche Nationalmannschaft ihr entscheidendes Spiel in der „Nations League“ gegen Spanien. Mit 0:6. Ein historische Desaster.

Joachim Löw (Quelle: www.wikipedia.org)

Die Reaktion des DFB? Erst einmal gar keine. Dann hieß es, man will prüfen. Wie man auch in den letzten Jahren nach anderen historischen Pleiten geprüft und anschließend einen Neuaufbau angekündigt hat.

In den letzten Jahren versinkt der Deutsche Fußballbund in einem tiefen Morast aus sportlicher Erfolglosigkeit, Korruptionsvorwürfen und internem Theater. Das sonst mehr als gewogene deutsche Fußballpublikum wendet sich ab. Zuerst polternd, dann gelangweilt und resigniert.

Reaktion des DFB? Man will prüfen.

Der Deutsche Fußballbund ist jedoch nicht die einzige Institution, die gerade in den letzten Tagen ein dickes Eigentor geschossen hat: der Kölner Erzbischof, Kardinal Woelki, kündigt an, das über sein Bistum angefertigte Gutachten, das sich mit den Missbrauchsfällen der letzten Jahrzehnte befasst, entgegen früherer Ankündigungen nicht zu veröffentlichen. Dass dabei die Vertreter der Opfer ihre Zustimmung geben sollten, ohne das Gutachten auch nur gelesen zu haben, ist nur noch ein Nebenschauplatz dieser traurigen Posse.

Kardinal Woelki (Quelle: www.wikipedia.org)

Die Öffentlichkeit reibt sich verwundert die Augen angesichts dieses völligen Unwillens, eigenes Unrecht aufzuarbeiten und transparent zu machen.

Seit Jahren geht es so. Die Deutsche Bischofskonferenz beauftragt eine wissenschaftliche Untersuchung der Missbrauchsfälle in den deutschen Bistümern und macht dann das, was man sich eigentlich nicht vorstellen kann: bricht diese Untersuchung ab mit der Begründung, dass es ja nicht angehen könnte, dass die Wissenschaftler ein Ergebnis veröffentlichen, das nicht vorher abgesprochen sei.

Nicht nur ein kommunikatives, sondern auch ein inhaltliches 0:6 der Katholischen Kirche.

Die Katholische Kirche und der DFB sind sich sehr ähnlich. Zwei Giganten taumeln ihrem Untergang entgegen. Der Zuschauer weiß nicht genau, ob die beiden überhaupt richtig gemerkt haben, was da mit ihnen passiert. Sie taumeln dem Untergang entgegen und scheinen beide in einer Schockstarre nicht reagieren zu können. Weshalb der Untergang weitergeht. Mal laut, mal leise.

Ich selbst war die meiste Zeit meines Lebens sehr tief mit diesen beiden Giganten verbunden: als Priester der katholischen Kirche und als Fan der deutschen Nationalmannschaft. Mittlerweile habe ich beiden Institutionen gegenüber ein sehr distanziertes Verhältnis, das geprägt ist von Erstaunen und Unglauben über diesen Unwillen, überhaupt zu reagieren.

Natürlich hat die Kirche in meinem Leben auf einer ganz anderen Ebene eine andere Bedeutung gehabt als der DFB. Trotzdem lohnt sich ein gemeinsamer Blick auf die beiden, weil in beiden die gleichen unheilvollen Mechanismen am Werk sind.

Ein Blick auf zwei untergehende Giganten.

Welche Faktoren sind es, die hier am Werk sind?

Grundsätzlich befinden sich die Katholische Kirche und der DFB in einem Monopol. Sie sind beide einmalig und haben eigentlich keine Konkurrenz. Natürlich gibt es auch eine Evangelische Kirche und natürlich gibt es auch andere Sportarten, aber das spielt für die beiden Monopolisten eigentlich keine große Rolle. Auch weil die Konkurrenz nicht besser dasteht. Entsprechend wandern die untreuen Katholiken und Fußballfans nicht zur Konkurrenz, sondern legen ihre Hände in den Schoß: der Kirchgang bzw. die Kirchensteuer fällt weg. Der Fußballabend mit Jogi auch.

Dies lässt das Monopol intakt erscheinen und macht es für den Monopolisten schwer, den Punkt zu erkennen, an dem man reagieren muss. Entsprechend geht es dann weiter.

Was passiert dann?

Phase 1: Macht nichts!

Zuerst kommt die „Macht nichts!“-Haltung. Gut, die Zahlen gehen runter, das kann passieren, hat es immer schon gegeben. Das wird wieder besser. Unser Produkt stimmt ja eigentlich.

Wenige Tage vor dem Spanienspiel gab der DFB-Sportmanager Bierhoff ein Interview. Tenor: eigentlich passt doch alles. Die guten Ergebnisse werden schon wiederkommen. In der katholischen Kirche gibt es seit Jahrzehnten immer wieder die Meinung: unsere Botschaft stimmt ja, es wird wieder aufwärts gehen. Und wenn nicht: geht auch. So schlimm wird es schon nicht werden.

So äußerte der damalige Kardinal Ratzinger in einem Interview mit einem Blick auf Deutschland, dass es eben passieren könnte, dass die Kirche in einem Land mal untergeht. Oder der damalige Essener Kardinal Hengsbach, der auf die leeren Kirchen angesprochen wurde: „Bitte? Ich habe noch keine leere Kirche gesehen. Wenn ich komme, ist die Kirche voll!“ Zum einen geht die Kirche nicht unter, und wenn ja, ist es auch nicht schlimm.

Phase 2: Verschleiern

Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem die Institution merkt, dass die Krise doch etwas heftiger ausfällt als erwartet und man reagieren muss. Also reagiert man. Ohne zu reagieren. Getreu dem berühmten Motto aus „Der Leopard“: alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.

Es werden Änderungen angekündigt oder auch durchgeführt, die die Leute zufriedenstellen sollen, aber nichts an der Problemlage ändern. Dann wird mal wieder ein DFB-Präsidium wegen Korruption entlassen oder Franz Beckenbauer wird ein Jahr im Fernsehen nicht interviewt. Aufarbeitung der Korruption? Fehlanzeige.

Dann tritt ein Bischof zurück wegen etwas üppiger Bauvorhaben, bekommt aber direkt den nächsten guten Posten in der Zentrale. Dann werden große Untersuchungen zu Missbrauchsfällen angekündigt, die entweder gestoppt oder nicht veröffentlicht werden. Dann werden in Rom große Kommissionen eingerichtet, Reformen in der Kirche voranzutreiben, von denen man nie wieder etwas hört.

Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.

Phase 3: Internes Zerreißen

Natürlich kann die Phase „Verschleiern“ nicht ewig dauern. Vielen wird klar: so geht es nicht weiter! Die Medien entdecken immer mehr unschöne Dinge, auch intern wird der Druck immer größer. Nun kommt die Phase des „Internen Zerreißens“: oben kämpft gegen unten, rechts kämpft gegen links, jeder gegen jeden. Beim DFB gehen die Landesverbände und die Amateurvereine an die Decke, in der katholischen Kirche zerfleischen sich Konservative und Liberale, Kleriker und Laien schieben sich die Schuld an der Krise zu.

Phase 4: Ändern oder Untergehen

Die Phase des „Internen Zerreißens“ kann zu zwei Dingen führen: der Laden fliegt komplett auseinander – es kommt zur Spaltung oder Auflösung – oder er reformiert sich. Wie es bei Sportverbänden schon Spaltungen gegeben hat, ist dieses Thema natürlich auch in der katholischen Kirche nicht völlig fremd. Martin Luther lässt grüßen.

Beide Institutionen – DFB wie Katholische Kirche – stehen an einem wichtigen Scheidepunkt. Folgendes ist inhaltlich in den letzten Jahren an der Spitze passiert: die Führungseliten beider Institutionen haben erkannt, dass es ein noch deutlicheres Signal zum Reformwillen braucht. Also wurde interessanterweise in beiden Institutionen eine Person an die Spitze gewählt, die sich sehr ähnlich sind: Papst Franziskus wie DFB-Präsident Fritz Keller waren nie Teil des internen Führungszirkels, gelten als reformorientiert, sind aber gleichzeitig nicht in der Lage, schwerwiegende strukturelle Reformen durchzuführen.

Die Wahl dieser beiden ist also durchaus eine Verlängerung der „Verschleierungstaktik“ der führenden Eliten in den beiden Institutionen. Was aber nun passiert – und so bestimmt nicht geplant war – Papst Franziskus und Fritz Keller reformieren zwar nicht strukturell ihre Institutionen, aber sie schaffen durch ihren offenen, nicht eingreifenden Führungsstil neue Diskussionsräume, die sich für ihre Nachfolger nicht mehr schließen lassen und langfristig zu dem Druck führen können, echte Reformen anzugehen.

Es ist wahrscheinlich, dass sich bei den nächsten Wahlen die alten Eliten noch einmal durchsetzen, um wieder „für Ruhe zu sorgen“. Durch die neue, offene Diskussionskultur wird das aber nicht mehr möglich sein. Dann entscheidet sich, in welche Richtung sich die Institution entwickelt: Ändern oder Untergang. Dann kommt entweder die Zeit tiefgreifender Reformen oder der Absturz.

Katholische Kirche und DFB

Die oben beschriebenen Phasen laufen natürlich nicht immer so klar und deutlich voneinander abgrenzbar ab. Es gibt Teile des DFB oder der Kirche, die sind schon bei Phase 4 (dann treten sie aus) oder bei Phase 2. Diese Phasen verschwimmen oft und diese Ungleichzeitigkeiten befeuern natürlich die Konflikte.

Letztlich leiden beide Institutionen daran, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse so geändert haben, dass Reformen nötig sind, um die alte gesellschaftliche Größe und Bedeutung zu erhalten. Beide Institutionen werden von einer Führungsschicht geleitet, die nicht von außen eingesetzt wird (wie in der Politik durch Wahlen oder in der Wirtschaft durch den Markt), sondern intern sich selbst erneuert: Kooptation.

Dies führt zu einer Elite, die logischerweise konservativ ist, insofern sie den Status quo der Institution (und dabei auch ihren eigenen) bewahren will. In bestimmten Mechanismen lädt sich Druck auf, den die führenden Leiter der Institutionen schrittweise entladen wollen. Was auf Dauer nicht funktioniert.

Es ist schwer, Prognosen für die beiden Institutionen abzugeben. Dazu braucht es nicht nur eine genaue Analyse des Problems. Die liegen seit Jahren – im Falle der katholischen Kirche seit Jahrzehnten – auf dem Tisch. Die Frage ist, ob diese Analysen auch in der Führungsetage der Institutionen als gültig anerkannt  werden, damit tiefgreifende Reformen möglich sind, die die Probleme auch lösen, die zur Krise führen.

Letztlich ist es leider ein schnöde Machtfrage. Es geht nicht um die Inhalte (die liegen auf dem Tisch), sondern um die Macht, über Inhalte zu entscheiden. Das Ergebnis in beiden Institutionen wird ganz wesentlich davon abhängen, ob die „Reformer“ den Durchhaltewillen und die Durchsetzungsfähigkeit haben, diesen Kampf für sich zu entscheiden. Dazu braucht es vor allem mehr Organisationfähigkeit als bisher, weil die logischerweise immer mehr in der Führungsschicht der Institition vorhanden ist.

Beide Institutionen sind aufgrund ihrer Monopolstellung Sonderfälle. Dies gilt natürlich in besonderer Weise für die Katholische Kirche mit ihrer Größe und ihrer Geschichte. Die Mechanismen, denen sie aber unterliegen, sind in jedem Unternehmen, Verband, Verein und jeder Partei vorhanden. Überall geht es darum, wer wie Entscheidungen für die gesamte Gruppierung treffen kann, wie Veränderungen durchgeführt oder verhindert werden.

Jedes Unternehmen und jede Gruppierung braucht die gesunde Balance zwischen einer ausreichenden Veränderungsbereitschaft, aber auch dem Wissen um eine eigene, nur schwer veränderbare Identität, ein Profil. Was Teil der Identität ist und was verändert werden muss: die Fähigkeit, das zu erkennen, entscheidet über das Leben eines Unternehmens oder eines Vereins. Und diese Fähigkeit wird auch über das Leben des DFB und der katholischen Kirche entscheiden.

Kirche und Missbrauch

Es ist ein Sommer-Abend in Berlin. Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs hat zu einem öffentlichen Hearing geladen.

Der Abend verläuft zuerst ganz friedlich, dann erhebt sich ein Herr und es platzt aus ihm heraus: „Ihr habt mein Leben zerstört!“

Er erzählt seine Geschichte. Von seinem Leben in einem Kinderheim der Niederbronner Schwestern in Oberammergau. Wie Schwester R. ihn im Keller einsperrte, seinen Kopf gegen die Wand stieß und ihm den Arm brach. Wie sie ihn dann zu sich ins Bett holte und er sie befriedigen musste. Wie Priester, die zu Besuch waren, ihn vergewaltigten. Als er zehn Jahre alt war. Die Übergriffe begannen, als er sieben war.

Nun ist er 55 Jahre alt. Psychisch ein Wrack. Er hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich und lebt von Hartz IV. Keiner der Täter wurde belangt.

Diese Horrorgeschichte, die leider kein Märchen, sondern brutale Realität ist, steht am Anfang dieses Blogs, damit klar wird, worum es eigentlich geht, wenn es heißt, dass es Tausende Missbrauchsfälle in der Kirche gab. Es sind Tausende Leben, die bis auf den Grund ruiniert sind, und viele Leben, die aus Verzweiflung vorzeitig beendet wurden.

Aufgrund meiner eigenen kirchlichen Biographie sei erwähnt, dass es mir nicht um einen Rachefeldzug gegen die Kirche geht. Ich fühle mich als Katholik und wünsche der Kirche, dass sie diese Krise übersteht. Aber um diese Krise zu überstehen, muss man eben auch einer Wahrheit ins Auge sehen, die anzusprechen man vielleicht eine gewisse Distanz braucht, die einem als ehemaliger Amtsträger etwas leichter fällt.

Die Aufklärung des Missbrauchs, 1. Versuch

Wie konnten diese Dinge geschehen? Wie konnte eine Kirche, die sich als heilig und heilbringend versteht, zu einem solchen Sumpf werden?

Dem versucht eine Studie auf den Grund zu gehen, deren Ergebnisse in der letzten Woche der Öffentlichkeit bekannt wurden. Alleine die Entstehungsgeschichte und Arbeitsweise dieser Studie verrät viel über den Aufklärungswillen der Kirche.

Zuerst war eine andere Studie geplant. 2011 hatte die Bischofskonferenz einstimmig den Beschluss gefasst, das „Kriminologische Forschungsinstitut Hannover“ mit einer Studie über den Kindesmissbrauch durch Priester zu beauftragen. Dieses Institut unter Leitung von Prof. Christian Pfeiffer gilt als bestes kriminologisches Institut Deutschlands. Im Jan. 2013 wurde der Vertrag durch die Bischofskonferenz gekündigt. Die Begründung: unüberbrückbare Differenzen, die vor allem damit zusammenhingen, dass die Bischofskonferenz nicht nur die Personalakten nicht herausgeben wollte, sondern auch bestimmen wollte, welche Ergebnisse überhaupt veröffentlicht werden.

Christian Pfeiffer (Quelle: www.spiegel.de)

Das Institut weigerte sich, den bestehenden Vertrag zu verändern. Das Ergebnis: Kündigung.

Die Tatsache, dass man einen Vertrag mit einem Institut kündigen muss, weil dieses auf Einhaltung wissenschaftlicher Standards besteht, war natürlich ein Desaster für die Bischofskonferenz, das nicht gerade dazu beitrug, die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass glaubwürdig ein Aufklärungswille vorhanden ist.

Die Aufklärung des Missbrauchs, 2. Versuch

Dann kam der neue Auftrag an die Autoren der aktuellen Studie. Hier galt von vornherein: Kein direkter Zugriff auf die kirchlichen Akten. Die Autoren der Studie mussten Fragebögen an die Bistümer einreichen, die diese dann beantwortet haben. Soweit sie denn kooperieren wollten.

So stellten die Autoren fest, dass „sich eindeutige Hinweise auf Aktenmanipulationen“ gefunden hätten. Mehrere Bistümer, so heißt es weiter, haben „Akten- oder Aktenbestandteile mit Bezug auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger in früherer Zeit vernichtet“.

In Zahlen: es gibt 27 deutsche Bistümer. Zwei Bistümer gaben an, dass Akten bereits in früheren Zeiten vernichtet worden sind, 13 Bistümer konnten solche Vernichtungen nicht ausschließen. Außen vor blieben sämtliche Ordenseinrichtungen, die allerdings über sehr viele Heime und Internate verfügen. Alleine im Kloster Ettal sind knapp 100 Fälle publik geworden.

Der Missbrauchsbeauftragte der DBK: Bischof Ackermann (Quelle: www.katholisch.de)

Zusammenfassend lässt sich sagen: die aktuelle Studie genügt zum einen nicht den wissenschaftlichen Kriterien der Neutralität, da der Täter, der untersucht wurde, die Informationen kontrollierte, die verarbeitet wurden. Zum anderen sind entscheidende Bereiche, in denen Missbrauch nachweislich passierte, völlig außen vor geblieben.

Vor diesem Hintergrund muss man die aktuell veröffentlichten Zahlen zur Kenntnis nehmen, die erschreckend groß sind, aber wohl nur ein Bruchteil der realen Zahlen:

Zwischen 1946 und 2014 sind 1670 Kleriker in Deutschland als Täter kirchlich aktenkundig geworden. 3677 Kinder und Jugendliche sind als mutmaßlichen Opfer erwähnt. Wie viele sind nicht erwähnt?

Um diese Zahlen einzuordnen: 2011 wurde in den wesentlich kleineren und weniger katholischen Niederlanden eine unabhängige Untersuchung in Auftrag gegeben, die eine Opferzahl von knapp 20.000 Kindern und Jugendlichen ermittelte.

Diese Problematik ist nicht nur in der deutschen oder niederländischen Kirche vorhanden, sondern ein weltweites Problem (bis in den Vatikan hinein, dessen Nr. 3, Kardinal Pell, gerade in Australien auf der Anklagebank sitzt). Untersuchungen aus verschiedenen Ländern zeichnen alle das gleiche erschreckende Bild: massiver Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und anschließende Vertuschung durch kirchliche Stellen bis in die höchsten Ebenen hinein.

Die Fundamente

Der massive Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche hat das Potential, die Kirche in ihren Fundamenten zu erschüttern, da es an zwei Grundpfeiler rührt, auf denen die Kirche in ihrer Lehre steht: an der Sexualmoral und am Amtsverständnis.

Quelle: www.zeit.de

Um die Tragweite noch einmal zu begründen: Laut Studie sind in den letzten Jahrzehnten mindestens (!) 5,1% der Diözesanpriester als Missbrauchstäter auffällig geworden. Das ist mindestens jeder 20. Priester.

Diese Quote ist um ein Vielfaches höher als diejenige, die von Forschern für die Normalbevölkerung veranschlagt wird.

Wenn die Quote innerhalb der Priesterschaft derart höher ist als in der Normalbevölkerung, dann ist eines nicht zu leugnen: es ist kein Zufall, sondern hat Gründe. Man muss als Tatsache zur Kenntnis nehmen, dass sowohl die sexuelle Lebensform der Priester als auch die Machtstruktur der Kirche dafür verantwortlich sind, dass Missbrauch in diesem Ausmaß passiert.

Sexualmoral

Psychologen wie Wunibald Müller, der seit Jahrzehnten deutschlandweit Priester psychologisch betreutet, gehen davon aus, dass 20-30% der Priester homosexuell veranlagt sind. Eine ähnlich hohe Quote lebt vermutlich in einer heterosexuellen Beziehung. Dazu die überdurchschnittlich hohe Quote von Missbrauchsfällen.

All dies zeigt: die Unterdrückung von Sexualität bzw. die offizielle Geringschätzung von Sexualität (die auf den ehelichen Zeugungsakt reduziert werden soll), funktioniert nicht und führt entweder zu einem verborgenen Zweitleben der Priester oder gar zu verbrecherischen Handlungen an Schutzbefohlenen.

Machtstruktur

Hier gilt es zwei Aspekte zu beachten: zum einen die Macht des Priesters in seiner Gemeinde oder in seinem Umfeld. Dieses Faktum war sicherlich in früheren Jahrzehnten deutlicher als heutzutage: der Priester ist eine Vertrauensperson und das, was er macht, ist erst einmal richtig und „heilbringend“. Jahrzehntelang konnten Kinder missbraucht werden, weil sie den Priestern oder Ordensleuten vertraut waren und nicht auf die Idee kamen, dass diese Menschen auch zu Verbrechern werden können. Dies ging soweit, dass Eltern oft ihren Kindern nicht geglaubt haben, wenn diese von derartigen Dingen erzählten.

Quelle: www. tagesspiegel

Der zweite Aspekt betrifft die Machtstruktur der Kirche als Ganzer. Jede Macht, die nicht kontrolliert wird, entgleitet. Deshalb gibt es in der Demokratie die Gewaltenteilung.

In der Kirche gibt es eine solche Gewaltenteilung nicht und deshalb hat sich eine klerikale Machtstruktur herausgebildet, die von außen geradezu unangreifbar ist. Diese Unangreifbarkeit kann in bestimmten Situationen sogar Vorteile bieten – man denke etwa an die Herausbildung sehr widerstandsfähiger Strukturen der Kirche in Diktaturen oder in kommunistischen Ländern des Ostblocks.

Es gibt aber auch eine Schattenseite dieser Unangreifbarkeit, die dann zutrage tritt, wenn es darum geht, Versagen von Teilen der Machtstruktur aufzuklären. Es kommt zu Vertuschungen, Priester werden nur versetzt, aber nicht gefeuert, Anschuldigungen zum Missbrauch werden als „bloßes Geschwätz“ abgetan, Bischöfe werden öffentlich von Stellen des Vatikans gelobt, wenn sie nicht mit der Staatsanwaltschaft kooperieren, Opfer werden wie Störenfriede behandelt.

Was ist zu tun?

Die Kirche wird sehr massiv an sich arbeiten müssen, um diese Krise zu überstehen. Als erstes muss sie sich klarmachen, dass diese Krise nicht zufällig in ihr passierte, sondern aufgrund ihrer Sexualmoral und ihrer eigenen Struktur eine logische Konsequenz war.

Die Kombination einer Sexualmoral, die viele überfordert, und einer Machtstruktur, die nach außen intransparent ist, weil sie nicht nach außen verantwortlich ist, muss dazu führen, dass 1. massive Verstösse gegen die Sexualmoral passieren, die dann 2. in nicht angemessener Weise intern aufgearbeit werden.

Quelle: www.zeit.de

So, wie die Kirche leibt und lebt, mussten diese Dinge passieren. Dieser brutalen Wahrheit muss sich die Kirche stellen und kann dann erst effektiv und vor allem glaubwürdig einen Neuanfang machen.

Eine Nichtbearbeitung dieser Strukturen führt nicht nur dazu, keine Glaubwürdigkeit herzustellen, sondern – viel schlimmer – dazu, dass die Missbrauchsfälle weitergehen. Der massive Missbrauch ist nicht nur eine Vergangenheitsbewältung, sondern auch eine Gegenwartsbewältigung, denn in den aktuellen Strukturen muss der Missbrauch weitergehen. Es braucht nicht nur einen reumütigen Blick nach hinten, sondern einen ethischen und strukturellen Neuanfang.

Damit dieser Neuanfang gelingt, braucht es eine andere Haltung als bisher: nämlich die Haltung, die aus dem Wissen erwächst, dass man Fehler macht und man auch als Kirche Schuld auf sich laden kann.

In dieser Haltung können glaubwürdig die Dinge erfolgen, die bitter nötig sind: ein Nachdenken über die Sexualmoral, ein Nachdenken über die Lebensform der Priester, die eigenen klerikalen Machtstrukturen, eine umfassende Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, ein angemessener Umgang mit den Opfern, der Wille, mit der Staatsanwaltschaft und mit neutralen Stellen zusammenzuarbeiten, die Entfernung von Tätern aus den eigenen Reihen usw.

Es sind viele Kleinigkeiten, aber auch die großen, grundsätzlichen Dinge, mit denen die Kirche Glaubwürdigkeit und Vertrauen zurückgewinnen muss. Dies ist aber notwendig, weil dieser riesige Skandal, schutzbefohlene Kinder und Jugendliche durch eigene Amtsträger missbraucht zu haben, nicht verziehen werden wird.

Es ist eine urchristliche Lehre: Vergebung nur nach glaubwürdiger Reue. Hier liegt die große Aufgabe der Kirche. Und Reue heißt auch: Handeln.