Ein moralischer Selbstmord – Katholische Kirche und der Missbrauch

In der letzten Woche wurde in München ein Gutachten über den sexuellen Missbrauch im Erzbistum München der Öffentlichkeit vorgestellt. Es sind 1900 Seiten, deren Lektüre durchaus lohnenswert und bedrückend zugleich ist.

Im Brennpunkt des Gutachtens steht Joseph Ratzinger, der von 1977 bis 1982 Erzbischof in München war.
Dies ist zwar nur ein kurzer Zeitraum, aber die Bedeutung Ratzingers für die Entwicklung der Gesamtkirche, die er als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst in den letzten Jahrzehnten entscheidend geprägt hat, rückt ihn zurecht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Ratzinger hat die Regeln bestimmt, er hat bestimmt, wie die Kirche mit den Tätern und den Opfern von sexuellem Missbrauch umgeht und daher ist ein Blick auf ihn nicht nur interessant, sondern notwendig, um die Kirche der letzten Jahrzehnte verstehen zu können.

Die Stellungnahme Ratzingers

In satten 82 Seiten nimmt Ratzinger Stellung zu den gegen ihn in fünf Fällen erhobenen Vorwürfen, Priester wider besseren Wissens und teilweise trotz einschlägiger Verurteilungen wieder in der Seelsorge eingesetzt und damit dafür gesorgt zu haben, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern durch diese Priester weitergehen konnte.

Der mittlerweile 94jährige Ratzinger gilt als geistig fit – so bestätigt es zumindest immer wieder sein Umfeld und so bestätigen es auch seine Veröffentlichungen. Er selbst gibt an (S. 2), dass die Erinnerung an die zurückliegenden Sachverhalte „auch heute sehr gut ist“.

Benedikt XVI. (Quelle: www.wikipedia.org)

Ratzinger weist sehr ausführlich jede Kenntnis der ihm vorgelegten Fälle von sich.
Die Art und Weise, wie er dies tut und welche Argumente er vorbringt, ist jedoch wenig überzeugend:
– Ratzinger gibt an, an den jeweils entscheidenden Sitzung des Ordinariats nicht teilgenommen zu haben. Dies tut er auch, wenn seine Anwesenheit in den Protokollen ausdrücklich notiert ist und Referate von ihm über andere Themen in der Sitzung vermerkt sind.
In Bezug auf einen Fall hat Ratzinger mittlerweile zugegeben, anwesend gewesen zu sein, es sei aber nicht um das Thema Missbrauch gegangen.
– Ratzinger gibt wiederholt an, dass ein Hinweis in den Akten, dass er zu informieren sei, nicht bedeuten würde, dass er wirklich informiert worden sei (S. 46, S. 56)
– Ratzinger verweist in Fällen, in denen er nachweislich über Strafbefehle bestimmter Priester informiert wurde, darauf, dass er dann aber keine Information darüber erhalten habe, warum ein Strafbefehl erfolgt sei (S. 46, S. 47, S. 51)

Neben diesen nicht sehr glaubwürdigen Schutzbehauptungen tauchen auch inhaltliche Begründungen auf, die in mehrfacher Hinsicht nachdenklich machen:
– In den betreffenden Jahren nach dem II. Vaticanum sei das alte kirchliche Gesetzbuch (CIC/1917) eigentlich nicht mehr gültig gewesen (S. 59: „wurde allgemein als nicht mehr in Geltung stehend angesehen“), während das neue Gesetzbuch noch in der Entstehung war (CIC/1983). Der Zeitraum von 1965 bis 1983 wird damit faktisch als rechtsfreier Raum dargestellt. Belege für eine solche Nichtgültigkeit des alten Gesetzbuches gibt es nicht.
– Ein sexueller Missbrauch, der von einem Priester begangen wurde, wurde von ihm als Privatperson begangen und hat trotz staatlichem Strafbefehl keine Auswirkungen für sein Priestersein und stelle damit „keine Gefährdung seelsorglicher Tätigkeit“ dar (S. 48).
– Exhibitionistische Handlungen sind keine Handlungen „mit Minderjährigen“, sondern nur „vor Minderjährigen“ (S. 60) und sind damit nicht als Missbrauch zu ahnden (Hervorhebung M.R.).
– Wenn es keine direkte körperliche Berührung gibt, gibt es auch keinen Missbrauch: „Die Tathandlungen bestanden jeweils im Entblößen des eigenen Geschlechtsteils vor vorpubertären Mädchen und in der Vornahme von Masturbationsbewegungen, in einem Fall im Zeigen pornographischen Materials. In keinem der Fälle kam es zu Berührung“. Daher, so Ratzinger, sei der agierende Priester kein „Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn“. (S. 62)

Diese Äußerungen Ratzingers sind nicht abzutun als ein Einzelfall, den er hier in einer Hektik der Verteidigung unglücklich zusammengeschrieben hat. Sie sind nicht singulär, sondern entsprechen auch früheren Äußerungen von ihm und sie entsprechen auch dem kirchlichen Handeln.
Nur vor diesem Hintergrund werden Ratzingers Äußerungen wirklich verständlich: nicht als Entgleisung, sondern als logische Konsequenz persönlichen und allgemein kirchlichen Handelns der vergangenen Jahrzehnte.

Kein Bischof und kein Papst ist schuld

Die Kirche muss sich der Tatsache stellen, dass auf der ganzen Welt Priester sexuellen Missbrauch Minderjähriger betrieben haben. Persönlich schuld ist jedoch niemand.
Kein Bischof und kein Papst fühlt sich für diese Dinge verantwortlich, sei es, weil er nichts gewusst hätte oder sich nicht zuständig fühlte, sei es, weil das System Kirche insgesamt schuld ist, aber nicht er persönlich.
Dies führt dann zur Situation, dass Papst Franziskus sämtliche von deutschen Bischöfen angebotenen Rücktritte nicht annimmt, da keiner verantwortlich ist, oder dass nach Veröffentlichung des Gutachtens Kardinal Müller in Rom lapidar feststellt, dass Ratzinger nicht schuld war – ohne nach eigenen Angaben das Gutachten auch nur gelesen zu haben.
Diese vermittelte Verantwortungslosigkeit erstaunt, da sie sonst in der Kirche nicht gelebt wird und strukturell eigentlich unmöglich ist: die Kirche ist ja sehr klar und sehr hierarchisch von oben nach unten strukturiert und damit sind Macht und Verantwortung in der Kirche strukturell eindeutig verteilt. Warum nicht beim Thema Missbrauch?

Wer ist schuld?

a) Zeitgeist
Ratzinger verweist gerne auf den Zeitgeist, so immer wieder in seiner Antwort an die Münchner Anwälte. Zum einen seien derartige Taten damals noch nicht in ihrer Schwere wahrgenommen worden, und daher nicht durch das kirchliche oder staatliche Recht greifbar gewesen – was faktisch nicht stimmt, worauf auch die Gutachter hinweisen. Die Täter werden strafrechtlich verurteilt – dann ist man nicht in der Lage, ein Unrecht zu erkennen? Zum anderen wird gerne darauf verwiesen, dass es der Zeitgeist war, der die Menschen – und damit auch die Priester – „übersexualisiert“ hätte. Der Kindesmissbrauch, so Ratzinger noch ausführlich 2019 in einem Aufsatz, sei die Konsequenz der sexuellen Freiheit der 68er.

b) Medien
2002 hielt Ratzinger – damals noch Kardinal – im spanischen Murcia eine Rede, in der er die immer mehr bekannt gewordenen Fälle als Teil einer „orchestralen Kampagne“ der Medien bezeichnete, die Einzelfälle mit böser Absicht aufbauschen würde. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Entwicklung 2010 und den Ermittlungen in den USA bezeichnete der damalige Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano die Enthüllungen als „dummes Gequatsche“, Kardinal Müller die jetzigen Veröffentlichungen als „nicht überraschende“ Kampagne gegen Ratzinger.

c) Teufel
Im Februar 2019 hielt Papst Franziskus die Abschlussrede zum kirchlichen Missbrauchsgipfel im Vatikan. Der Papst blieb erschreckend nebulös und sprach vom „Bösen“, das sich gegen das Schwache richtet, und von den Priestern, die zu „Werkzeugen des Teufels“ geworden seien. Ähnlich sprach auch Ratzinger in seinem Artikel von 2019 vom Teufel, der mit seiner Macht die Kirche in Versuchung führt.

d) System Kirche
Die Häufung von Missbrauchsfällen ist nicht eine Häufung von Einzelfällen, sondern eine Folge einer bestimmten Art und Weise, wie die Kirche in ihren Machtstrukturen funktioniert: das „System Kirche“.
Auf dieses „System“ wird in den letzten Monaten verstärkt verwiesen, um die handelnden Personen als hilflose Teile des Systems zu entlasten. Abgesehen davon, dass diese Personen keineswegs „hilflose“ Teile des Systems, sondern vielmehr die bestimmenden Kräfte dieses Systems waren: „das System“ gibt es an sich gar nicht. „Das System“ ist eine hilfreiche, aber konstruierte Beschreibung von zwischenmenschlichen Handlungen. Die eben von Menschen begangen werden, die für das verantwortlich sind, was sie tun – oder nicht tun.

Ob jetzt Zeitgeist, Medien, der Teufel oder das System: es sind Versuche, die Verantwortung von der kirchlichen Hierarchie auf irgendwelche diffusen bösen Mächte abzuwälzen. Weder führt größere sexuelle Freiheit zum Missbrauch von Kindern, noch entbindet eine breite mediale Präsenz des Themas Missbrauch von der Frage, warum denn der Inhalt der Berichte leider stimmt, noch entbindet ein System diejenigen, die es leiten, von jeder Verantwortung. Den Teufel lassen wir jetzt mal außen vor, auch wenn in den letzten 20 Jahren durch Johannes Paul II. und Ratzinger die weltweite Exorzistenausbildung forciert wurde.

Letztlich sind es hilflose Versuche, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Die Verantwortung ist in der jetzigen Struktur der Kirche relativ klar geregelt und damit eindeutig auf Seiten der Bischöfe und des Papstes – die ja sonst wenig Schwierigkeiten haben, diese Verantwortung für sich zu reklamieren.

Missbrauch nicht erkannt?

Der Verweis darauf, dass man den Missbrauch damals einfach nicht richtig hat erkennen können, ist aus zwei Gründen abzulehnen:

Missbrauch wird auch heute nicht erkannt bzw. vertuscht: wenn heute Unwille, dann auch damals
Die Fähigkeit, den Missbrauch zu erkennen, aufdecken zu wollen und angemessen zu reagieren, ist auch heute nicht vorhanden – trotz mittlerweile vieler interner und externer Gutachten.

Kardinal Meisner (Quelle: www.wikipedia.org)

Dies gilt nicht nur für Ratzinger, und dies ist nicht nur Naivität und Unfähigkeit, sondern auch Unwille, der deutlich wird,
– wenn etwa Kardinal Meisner empört ausruft „Ich habe das nicht geahnt!“, er selbst aber die entsprechenden Akten über die „Brüder im Nebel“ angelegt hat,
– oder wenn der zuständige römische Kardinal Hoyos dem französischen Bischof Pican dafür dankt, nicht mit staatlichen Stellen zu kooperieren,
– oder wenn vor wenigen Wochen bei einem Prozess in Köln herauskommt, dass der jetzige Erzbischof von Hamburg und damalige Personalreferent in Köln, Stefan Heße, keine Protokolle anfertigen ließ, da diese „beschlagnahmefähig“ seien.

Wenn ein Gutachten veröffentlicht wird, äußern sich regelmäßig die Bischöfe „erschrocken“ und „überrascht“. Abgesehen davon, dass mit der steigenden Anzahl Gutachten diese Äußerungen immer weniger glaubwürdig werden: die Gutachten beruhen ausschließlich auf aktenkundigen Fällen, die die Bistümer den Gutachtern zur Verfügung gestellt haben.

Wie kann man über das überrascht sein, was in den eigenen Akten steht?

Der Verweis auf eine damalige Unfähigkeit, Missbrauch zu erkennen und ehrlich damit umzugehen, ist schon deshalb ungültig, weil auch heute die Kirche derart unter dieser mangelnden Fähigkeit leidet, dass man damals wie heute nicht von einer Unfähigkeit, sondern von einem Unwillen sprechen muss.
Damals wie heute konnte man, aber man wollte nicht.

Leid der Opfer
Der andere Grund, warum der Hinweis auf eine damalige Unkenntnis nicht verfängt, ist das offensichtliche Leid der Opfer. Und damit kommen wir zum zentralen Punkt der Anklage gegenüber der Kirche.

In der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs durch kirchliche Amtsträger geht es nicht in erster Linie um Verfahrensfragen, sondern ganz fundamental um die Frage, wie es sein kann, dass weltweit Hunderttausende Kinder missbraucht werden konnten von Menschen, die als Priester ihr Leben der Liebe Gottes versprochen haben, und diese Täter dann auch noch von der Kirche gedeckt und weiter im Dienst gehalten wurden.

Die fundamentale Anklage an die Kirche ist nicht die Frage, warum man vor 50 Jahren noch keinen Missbrauchsbeauftragten hatte, sondern die Frage, warum die Kirche wider besseren Wissens die Täter weiter gewähren ließ.

Wie kann man ernsthaft darauf verweisen, dass man damals noch nicht in der Lage war, ein Unrecht zu erkennen, wenn Kinder von Priestern vergewaltigt werden und man oft sogar ein Geständnis auf dem Tisch hatte?
Wie kann man auf die Idee kommen, dass es keine ernsthaften Auswirkungen auf das Leben eines Menschen hat, wenn er als Kind vergewaltigt wird oder einen erwachsenen Mann befriedigen muss?
Wenn man glaubte, Therapien könnten die Täter heilen, warum wurden sie dann nicht kontrolliert? Die Therapien und die Täter?
Warum war und ist der eigene Ruf immer wichtiger als die Situation der Opfer?
Wie kann man mit einer Unkenntnis über Missbrauch argumentieren, wenn das Leid der Opfer doch eigentlich sehr konkret ist?
Man muss es nur sehen wollen.

Was muss passieren?

Wahrnehmung von Verantwortung
Trotz der klaren hierarchischen Struktur der Kirche scheinen der Missbrauch sowie die Aufarbeitung des Missbrauchs in einem Verantwortungs-Vakuum zu geschehen. Es muss nun darum gehen, Verantwortung wahrzunehmen, und dies auf mehreren Ebenen:
– Zuallererst gegenüber den vielen Opfern, die auf eine angemesse Entschädigung, aber vor allem auf Anerkennung ihres Leids und auf einen respektvollen Umgang warten müssen.
– Zum anderen bedeutet Verantwortung, dass die Personen der kirchlichen Leitung, die ihrer Verantwortung damals wie heute nicht gerecht geworden sind, in ihrem Versagen benannt werden, von ihren Leitungsaufgaben entbunden werden, und sich kirchlicher und staatlicher Rechtsprechung stellen müssen.

Aufklärung
Die bisherigen Gutachten, die in Deutschland erschienen sind, haben als Grundlage die von den Bistümern an die Forscher herausgegebenen Personalakten sowie Befragungen, die auf diesen Akten beruhen. Auf dieser Grundlage benannte die MHG-Studie 3766 Missbrauchsopfer. Vergleiche mit anderen Ländern, in denen die Untersuchung deutlich breiter angelegt war, kommen auf deutlich höhere Zahlen (USA, F, NL), so dass davon auszugehen ist, dass die bisher in Deutschland benannten Zahlen nur einen geringen Teil der realen Opferzahlen abdecken.
Hier hat die Kirche die Pflicht, nicht nur durch äußeren Druck, sondern durch eigenen Antrieb die wahren Ausmaße des Missbrauchs zu ermitteln und sich dem zu stellen.

Führung
Die Nichtdurchsetzung eigener moralischer Vorschriften sowie die kollektive Nichtwahrnehmung von Verantwortung verweisen auf ein massives Führungsproblem in der Kirche.
Es stellt sich die Frage, ob die Kriterien, nach denen das kirchliche Führungspersonal ausgewählt wird, die richtigen sind. Diese Kriterien sind sehr eindeutig durch Papst Johannes Paul II. festgelegt worden und bestimmen, welche Eigenschaften eine Person haben muss, die Bischof werden soll.

Zu diesen benannten Eigenschaften gehören nicht etwa Führungserfahrung oder wirtschaftliche Grundkenntnisse, sondern beispielsweise das tägliche Tragen von Priesterkleidung, Gehorsam gegenüber dem Papst, marianisch geprägte Frömmigkeit sowie das öffentliche Eintreten für die legendäre Pillenenzyklika.
Ob diese Kriterien die richtigen sind, um das kirchliche Führungspersonal auszuwählen, das in der jetzigen Situation gebraucht wird, ist mehr als fraglich.
Hier muss die Kirche nachbessern und reflektieren, welches Verständnis von Leitung und Führung sie hat und durch welche Eigenschaften diese bestimmt sind.

System Kirche
Wenn man die Struktur der Kirche systemtheoretisch analysiert, fällt auf, dass das System Kirche ohne „normale“ Gläubige funktioniert.
Die Struktur der Kirche wird alleine durch die Gliederungen des kirchlichen Amts gesichert. Entsprechend wird die kollektive Flucht der Gläubigen aus der Kirche von den Amtsträgern achselzuckend zur Kenntnis genommen: „Wenn die Leute die Kirche verlassen, ist das ihre Entscheidung, da haben wir nichts mit zu tun“, so die Zitate der Bischöfe. In den 90er Jahren stellte Ratzinger in einem Interview über die Situation der deutschen Kirche ohne Bedauern fest, dass es in der Geschichte immer wieder vorgekommen sei, dass die Kirche in bestimmten Ländern verschwinde.
Gremien von Nichtpriestern sind nie mehr als schmückendes Beiwerk ohne jede Entscheidungskompetenz. Die letzte Entscheidung hat immer ein Priester oder ein Bischof. Dies geht hoch bis zum sog. „Synodalen Weg“, der gerade in der deutschen Kirche vorangetrieben wird: Laien und Bischöfe beraten, entscheiden tun die Bischöfe.

Diese strenggenommen auf das Amt reduzierte Struktur macht die Kirche zum einen sehr fest gegen äußere Angriffe, führt aber auch zur Entstehung einer in sich geschlossenen Kleriker-Kaste.
Hier muss die Kirche als Ganze über ihr Selbstverständnis nachdenken: Ist Kirche das Amt? Muss Kirche das Amt sein? Entspricht die Struktur des Amtes dem, was im Neuen Testament als Nachfolge formuliert wird?
Die Kirche muss sich in radikaler Form ihrem Amtsverständnis stellen. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob Priester heiraten sollen oder nicht, sondern ganz fundamental um die Frage, ob es ein kirchliches Amt geben muss, wenn ja, wie es aussehen soll, wenn nein, wie eine kirchliche Struktur ohne Amt hergestellt werden kann.

Zusammengefasst muss es für die Kirche darum gehen, sich eine Struktur zu geben, die nicht nur vom Amt, sondern von jedem Christen geprägt ist.

Compliance
Zur Sicherung ethischer und regelgerechter Abläufe in Unternehmen werden bestimmte Verfahren und Mechanismen eingesetzt, die unter dem Begriff „Compliance“ bzw. „Compliance Management System“ firmieren.
Sämtliche großen Unternehmen verfügen über derartige Systeme, um ein Grundmaß an gelebter Moral, aber auch an Seriosität und Glaubwürdigkeit abzusichern. Wichtiger Bestandteil solcher Systeme sind Hinweisgeber- bzw. Whistleblowingsysteme, durch die Regelverstöße jeder Art schnell aufgedeckt werden können.
Die Kirche wird sich für diese Systeme öffnen müssen, um nach innen und außen eine glaubwürdige Transparenz zurückzugewinnen und neues Unrecht schnell entdecken zu können.

Kirchliches Sonderrecht
Der jahrzehntelange Missbrauch Minderjähriger in der katholischen Kirche wirft auch die Frage auf, warum die staatliche Justiz hier ganz offensichtlich zu wenig Zugriff hatte.
Dies liegt einerseits sicherlich an einem gewissen (zusehends verschwindenden) moralischen Bonus der katholischen Kirche bzw. an einem gewissen Wohlwollen, das Vertreter der Justiz der Kirche entgegenbrachten.

Andererseits liegt dies aber auch an der besonderen rechtlichen Stellung, die die Kirche gerade in Deutschland innehat. Dies betrifft Besonderheiten des kirchlichen Arbeits- und Vermögensrechts, aber auch die Tatsache eines besonderen Rechtsschutzes: so sind die rechtlichen Hürden der Justiz, effektiv in der Kirche aufklären zu können (etwa durch eine Hausdurchsuchung, um Akteneinsicht zu gewinnen) deutlich höher als bei allen anderen Organisationen und Unternehmen, vergleichbar mit staatlichen Institutionen.
Diese Sonderrechte sind teilweise bereits durch den Europäischen Gerichtshof auf dem Prüfstand. Hier muss sich jedoch auch der deutsche Gesetzgeber mit Blick auf den jahrzehntelangen Missbrauch fragen, wo das kirchliche Sonderrecht einen rechtsfreien Raum geschaffen hat und wie ein solcher zukünftig zu verhindern ist.

Fazit

Das Bild, das die Kirche seit Jahrzehnten darbietet und das in seinen Konturen in der Öffentlichkeit immer deutlicher wird, ist ein Bild des Jammers und einer völligen moralischen Selbstzerstörung.
Gerade für eine Institution wie die Kirche mit ihrem hohen moralischen Anspruch ist dieses Versagen schlicht und einfach selbstmörderisch. Und dies müssen die leitenden Personen der Kirche endlich erkennen.

Man hat – handwerklich wie moralisch schlecht – versucht, den Missbrauch zu vertuschen in dem Glauben, eine reine Weste zu behalten und das Ansehen der Kirche nicht zu beschmutzen. Die äußere Fassade wurde zu einem Fetisch.

Vor einigen Tagen fragte der Journalist Zamperoni in einer Nachrichtensendung den Essener Bischof Overbeck, wie denn die Kirche ihr Ansehen wiederherstellen will.
Die Frage verrät, dass auch die Beobachter der Kirche auf diesen Fetisch des Ansehens hereinfallen. Es darf nicht primär um das Ansehen gehen, darum, wie die Kirche nach außen wirkt, sondern es muss in erster Linie darum gehen, was in der Kirche passiert. Nur auf das Ansehen zu achten, war der Grundfehler der Kirche in den Missbrauchsfällen.
Es geht um die Realität, nicht um ihre Darstellung. Und diese Realität bestand in der vieltausendfachen Ruinierung menschlicher Leben durch den sexuellen Missbrauch. An der Realität muss gearbeitet werden, nicht am Ansehen.

Die Kirche in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern taumelt ihrem Untergang entgegen, einem Untergang, an dem nicht die Gesellschaft oder der Zeitgeist oder die Sexualität der Menschen schuld sind, sondern die Kirche selbst.
Nur wenn sie dies erkennt, kann aus diesem Untergang ein neuer Aufbruch werden. Allzu optimistisch sollte man nicht sein.

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