Die Krise der katholischen Kirche. Teil II: Selbstblockade.
Im 1. Blog über die Krise der Kirche ging es um die „Anti-Vernunft“, um die Herausbildung einer Vernunft, die sich von der „normalen“ öffentlichen Vernunft getrennt hat.
Bis zum Ende des Mittelalters waren religiöse und allgemeine Vernunft
identisch. Diese Einheit zerbrach, die Welt entwickelte sich weiter,
die allgemeine Vernunft galoppierte voran, die Wissenschaften entlockten
der Welt immer mehr Geheimnisse – und die Kirche ging in Opposition zur
Welt, weil die neuen Welterklärungen nicht mehr ihre waren. Mit allen
Konsequenzen für ihr Standing in der Welt, aber auch mit allen
Konsequenzen für einen Gott, der für die meisten Menschen aus der Welt
verschwand und immer weniger wahrnehmbar wurde.
Unfehlbarkeit
Dieser Kampf gegen die weltliche Vernunft wurde von der Kirche mit allen Bandagen geführt. Höhepunkt dieses Kampfes ist die Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit. Die noch einmal das Problem verschärfen sollte. Bis heute.
1862 veröffentlichte Papst Pius IX. den „Syllabus errorum“. In ihm wird eigentlich alles verurteilt, was man mit einer modernen Welt verbindet: Menschenrechte, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, Demokratie, Liberalismus, Vernunft und Fortschritt usw.
Wenn nun die Kirche ihr eigenes geistiges Leben, ihre Vernunft, als Gegensatz zur weltlichen Vernunft definiert, rückt automatisch die Frage in den Vordergrund: wie sieht dieser Gegensatz aus? Wer definiert die kirchliche Vernunft?
Wenige Jahre später kam die klare Antwort: der Papst.
1870 beschloss das I. Vatikanische Konzil mit nicht unumstrittenen Begleiterscheinungen (ein großer Teil der Teilnehmer war vor Beschlussfassung aus Protest abgereist) das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit.
Dieses von Pius IX. verkündete Dogma bedeutet im Kern Folgendes: Der
Papst hat die Macht, unfehlbare Glaubenswahrheiten zu verkünden, muss
sich dabei aber rückversichern, den Konsens der Gesamtkirche
auszudrücken (= sog. „außer“-ordentliches Lehramt). Wobei diese
Rückversicherung an die Gesamtkirche auch darin bestehen kann, eine
interne, handverlesene Theologenkommission zu beauftragen, die den
Konsens der Kirche feststellt.
Dieses Dogma wurde noch einmal verschärft Ende des 20. Jahrhunderts durch Johannes Paul II. (in Zusammenarbeit mit Josef Ratzinger). 1994 und 1998 sprach Johannes Paul II. im Zusammenhang mit der Frage des Frauenpriestertums nicht nur dem „außer-ordentlichen“, sondern auch dem „ordentlichen“ Lehramt (also ohne ausdrückliche Einbeziehung der Gesamtkirche) das Recht zu, definitive und unfehlbare Aussagen zu tätigen.
Damit war faktisch jede lehramtliche Äußerung des Papstes unfehlbar.
Was bedeutet das strukturell?
Völlige Selbstblockade. Wesentliche Neuerungen der katholischen Lehre sind damit unmöglich: wenn ein Inhalt als unfehlbar dargestellt wird, kann er nicht korrigiert werden. Sämtliche Reformbemühungen, die es seither gab, können sich also nur in einem sehr engen und sehr kleinen Rahmen abspielen, der immer enger werden muss.
Genau das ist auch beabsichtigt: es geht darum, einen Status quo gegen jede Neuerung zu bewahren. Pius IX. verabschiedete 1870 das Dogma, um so böse Dinge wie Gewissens- und Religionsfreiheit, Liberalismus und Fortschritt zu bekämpfen, die er wenige Jahre zuvor im sog. „Syllabus errorum“ verurteilt hatte. Johannes Paul II. führte die Verschärfungen ein, um das Verbot der Priesterweihe von Frauen zu sichern, das immer mehr hinterfragt wurde („Ordinatio sacerdotalis“, 1994).
Mit anderen Worten: die Blockade von Neuerungen ist nicht nur ein Effekt der Unfehlbarkeit, sie ist das Ziel.
Wenn eine Organisation in eine Krise oder in eine Schieflage gerät, dann setzen sich ein paar kluge Köpfe zusammen und überlegen, warum es diese Krise gibt und wie man ihr entkommen kann. Das passiert auch in der katholischen Kirche. Immer wieder treffen sich kluge Köpfe in Versammlungen und Synoden und beraten über die Krise.
Nur: die Ergebnisse und damit verbundenen Veränderungsvorschläge
haben keine Chance, aufgenommen zu werden. Das wird auch bei dem
aktuellen „Synodalen Weg“ der deutschen Kirche der Fall sein. Die
Ergebnisse haben keine Chance, aufgenommen zu werden, weil die Kirche
unfähig ist, ihre Strukturen zu verändern.
Wer entscheidet? Gar keiner!
In dieser selbstblockierenden Unfehlbarkeit der Kirche tritt noch ein weiterer Effekt zutage, der zuerst überraschend klingt: es entscheidet keiner.
Natürlich entscheidet das Lehramt in den Dingen des Alltags: wer wird Bischof, wer nicht usw. Das Unfehlbarkeitsdogma führt aber dazu, dass in den wichtigen, grundsätzlichen Dingen keiner entscheidet, weil keiner entscheiden kann.
Achten wir auf die Begründung:
1994 spricht Johannes Paul II. davon, dass Frauen nicht zum Priester geweiht werden dürfen, weil dies bisher nie getan wurde und er als Papst nicht die Macht hat, etwas anderes zu tun.
Wenn vergangene Entscheidungen unfehlbar sind, kann ich sie in der Gegenwart nicht ändern.
Diese Begründung zieht sich eigentlich bei allen lehramtlichen Äußerungen durch, die die wesentlichen Forderungen auf Veränderungen in der Kirche betreffen: Tut mir leid, war immer so in der Kirche, können wir nicht ändern.
Damit entscheidet faktisch keiner.
Moralische Unfehlbarkeit
Die Kirche ist unfehlbar und mit ihr das Amt, das die Kirche als Ganze repräsentiert: das Papstamt. Dieses Papstamt regelt sämtliche Abläufe in der Kirche, und diese Abläufe bzw. die Amtsträger wie die Bischöfe, die diese Abläufe garantieren, sind damit in einer gewissen Weise Teil dieser Unfehlbarkeit und völligen Sündenlosigkeit.
Darum kann ein Bischof auch keine Fehler in der Missbrauchsgeschichte machen.
Darum kann ein Kardinal Müller in einem Satz sagen, das Gutachten nicht
gelesen zu haben, aber trotzdem von Ratzingers Unschuld überzeugt zu
sein.
Darum kann noch nicht einmal ein Priester als Amtsträger Missbrauch betreiben, sondern nur das Menschliche in ihm.
Darum wird man nie erleben, dass ein Josef Ratzinger nicht nur ein Bedauern, sondern eine persönliche Schuld gegenüber den Opfern feststellt.
Kein Bischof und kein Papst hält sich selbst als Person für unfehlbar (hoffe ich zumindest). Aber sie sehen sich als Teil eines unfehlbaren Systems. Hieraus ergibt sich die völlige Unfähigkeit, innerkirchliche (und damit persönliche) Ursachen für ein Versagen zu erkennen und damit überhaupt moralische Verantwortung wahrzunehmen.
Wahlweise sind der Zeitgeist, der Teufel, die Medien, die Moderne an sich oder sonst wer schuld.
Aber nicht das kirchliche Amt oder eine Person als Amtsträger.
Doppelte Unfähigkeit
Die Kirche hat sich innerlich festzementiert. Die Kirche ist unfehlbar, und ein streng von oben nach unten durchorganisierter Apparat wacht darüber, dass keine Veränderungen passieren können, da jede wesentliche Veränderung ein Angriff auf die Unfehlbarkeit ist.
Dieser Zement hält die Kirche zusammen und macht sie von außen nahezu unangreifbar. Aber dieser Zement tötet jedes geistige Leben, jeden intellektuellen Aufbruch, jeden gläubigen Neuanfang.
Aus der Unfehlbarkeit ergibt sich eine doppelte Unfähigkeit:
- die Unfähigkeit, die Vergangenheit zu sehen: vergangene Fehler können nicht benannt werden und damit kann auch keine Verantwortung wahrgenommen werden;
- die Unfähigkeit, die Zukunft zu gestalten: neue Fragen und neue Problemlagen können nicht angemessen bearbeitet werden.
Die katholische Kirche befindet sich in einer Selbstblockade. Dies müssten nicht nur diejenigen bedauern, die sich Reformen wünschen, sondern auch diejenigen, die konservativ und eigentlich gegen Reformen sind. Denn auch wenn jemand glaubt, dass die Kirche keine wesentlichen strukturellen Veränderungen braucht, muss er ein Interesse an einem regen geistigen Leben der Kirche haben. Auch alte Tradition müssen immer wieder neu mit Leben gefüllt werden.
Fazit
Das Unfehlbarkeitsdogma hat die Kirche in eine Selbstblockade geführt. Es wird zwar darauf verwiesen, dass diese Unfehlbarkeit letztlich die Unfehlbarkeit der gesamten Kirche und aller Gläubigen ist, zugleich wird aber gesagt, dass nur das römische Lehramt die Möglichkeit hat, diese Unfehlbarkeit der gesamten Kirche festzustellen.
Unabhängig von der Frage, wer in der Kirche jetzt unfehlbar ist: die Unfehlbarkeit als solche ist bereits ein Problem. Natürlich muss eine Religion auf einen Wesenskern verweisen, der sie definiert und konstituiert – das ist aber keine Unfehlbarkeit, denn die bedeutet ja die Fähigkeit, diesen Wesenskern in Gesetze zu gießen. Das kann auf Dauer nur zu einem Fundamentalismus und zu einer Selbstblockade führen.
Als in Antike und Mittelalter die kirchliche Vernunft sich noch eins fühlte mit der allgemeinen Vernunft – Theologie und Philosophie waren eins -, hat die Kirche sehr genau darum gewußt, ihren Wesenskern nicht in Buchstaben und Gesetze gießen zu können. So formulierte etwa das IV. Laterankonzil 1215, dass “jede Aussage über Gott diesem eher unähnlich als ähnlich sei”. Diese Haltung wurzelte in einem Respekt vor dem göttlichen Geheimnis bzw. im Bewusstsein, nicht mit Gott identisch zu sein. Von dieser Bescheidenheit hat die unfehlbare Kirche Abschied genommen und erklärt jede ihrer lehramtlichen Äußerungen und Handlungen zu faktisch unfehlbaren Aussagen und moralischen Geboten.
Um diesen Vorgang, den Wesenskern der Kirche zu Gesetzen zu machen und damit zu moralisieren, geht es im 3. Blog und letzten Blog der Reihe “Die Krise der Kirche, Teil III: die Moral”.