Im 1. Blog über die Krise der Kirche ging es um die „Anti-Vernunft“, um die Herausbildung einer Vernunft, die sich von der „normalen“ öffentlichen Vernunft getrennt hat.
Bis zum Ende des Mittelalters waren religiöse und allgemeine Vernunft
identisch. Diese Einheit zerbrach, die Welt entwickelte sich weiter,
die allgemeine Vernunft galoppierte voran, die Wissenschaften entlockten
der Welt immer mehr Geheimnisse – und die Kirche ging in Opposition zur
Welt, weil die neuen Welterklärungen nicht mehr ihre waren. Mit allen
Konsequenzen für ihr Standing in der Welt, aber auch mit allen
Konsequenzen für einen Gott, der für die meisten Menschen aus der Welt
verschwand und immer weniger wahrnehmbar wurde.
Unfehlbarkeit
Dieser Kampf gegen die weltliche Vernunft wurde von der Kirche mit
allen Bandagen geführt. Höhepunkt dieses Kampfes ist die Erklärung der
päpstlichen Unfehlbarkeit. Die noch einmal das Problem verschärfen
sollte. Bis heute.
1862 veröffentlichte Papst Pius IX. den „Syllabus errorum“. In ihm wird eigentlich alles verurteilt, was man mit einer modernen Welt verbindet: Menschenrechte, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Trennung von Kirche und Staat, Demokratie, Liberalismus, Vernunft und Fortschritt usw.
Wenn nun die Kirche ihr eigenes geistiges Leben, ihre Vernunft, als
Gegensatz zur weltlichen Vernunft definiert, rückt automatisch die Frage
in den Vordergrund: wie sieht dieser Gegensatz aus? Wer definiert die
kirchliche Vernunft?
Wenige Jahre später kam die klare Antwort: der Papst.
1870 beschloss das I. Vatikanische Konzil mit nicht unumstrittenen
Begleiterscheinungen (ein großer Teil der Teilnehmer war vor
Beschlussfassung aus Protest abgereist) das Dogma von der päpstlichen
Unfehlbarkeit.
Dieses von Pius IX. verkündete Dogma bedeutet im Kern Folgendes: Der
Papst hat die Macht, unfehlbare Glaubenswahrheiten zu verkünden, muss
sich dabei aber rückversichern, den Konsens der Gesamtkirche
auszudrücken (= sog. „außer“-ordentliches Lehramt). Wobei diese
Rückversicherung an die Gesamtkirche auch darin bestehen kann, eine
interne, handverlesene Theologenkommission zu beauftragen, die den
Konsens der Kirche feststellt.
Dieses Dogma wurde noch einmal verschärft Ende des 20. Jahrhunderts
durch Johannes Paul II. (in Zusammenarbeit mit Josef Ratzinger). 1994
und 1998 sprach Johannes Paul II. im Zusammenhang mit der Frage des
Frauenpriestertums nicht nur dem „außer-ordentlichen“, sondern auch dem
„ordentlichen“ Lehramt (also ohne ausdrückliche Einbeziehung der
Gesamtkirche) das Recht zu, definitive und unfehlbare Aussagen zu
tätigen.
Damit war faktisch jede lehramtliche Äußerung des Papstes unfehlbar.
Was bedeutet das strukturell?
Völlige Selbstblockade. Wesentliche Neuerungen der katholischen Lehre
sind damit unmöglich: wenn ein Inhalt als unfehlbar dargestellt wird,
kann er nicht korrigiert werden. Sämtliche Reformbemühungen, die es
seither gab, können sich also nur in einem sehr engen und sehr kleinen
Rahmen abspielen, der immer enger werden muss.
Genau das ist auch beabsichtigt: es geht darum, einen Status quo
gegen jede Neuerung zu bewahren. Pius IX. verabschiedete 1870 das Dogma,
um so böse Dinge wie Gewissens- und Religionsfreiheit, Liberalismus und
Fortschritt zu bekämpfen, die er wenige Jahre zuvor im sog. „Syllabus
errorum“ verurteilt hatte. Johannes Paul II. führte die Verschärfungen
ein, um das Verbot der Priesterweihe von Frauen zu sichern, das immer
mehr hinterfragt wurde („Ordinatio sacerdotalis“, 1994).
Mit anderen Worten: die Blockade von Neuerungen ist nicht nur ein Effekt der Unfehlbarkeit, sie ist das Ziel.
Wenn eine Organisation in eine Krise oder in eine Schieflage gerät,
dann setzen sich ein paar kluge Köpfe zusammen und überlegen, warum es
diese Krise gibt und wie man ihr entkommen kann. Das passiert auch in
der katholischen Kirche. Immer wieder treffen sich kluge Köpfe in
Versammlungen und Synoden und beraten über die Krise.
Nur: die Ergebnisse und damit verbundenen Veränderungsvorschläge
haben keine Chance, aufgenommen zu werden. Das wird auch bei dem
aktuellen „Synodalen Weg“ der deutschen Kirche der Fall sein. Die
Ergebnisse haben keine Chance, aufgenommen zu werden, weil die Kirche
unfähig ist, ihre Strukturen zu verändern.
Wer entscheidet? Gar keiner!
In dieser selbstblockierenden Unfehlbarkeit der Kirche tritt noch ein
weiterer Effekt zutage, der zuerst überraschend klingt: es entscheidet
keiner.
Natürlich entscheidet das Lehramt in den Dingen des Alltags: wer wird
Bischof, wer nicht usw. Das Unfehlbarkeitsdogma führt aber dazu, dass
in den wichtigen, grundsätzlichen Dingen keiner entscheidet, weil keiner
entscheiden kann.
Achten wir auf die Begründung:
1994 spricht Johannes Paul II. davon, dass Frauen nicht zum Priester
geweiht werden dürfen, weil dies bisher nie getan wurde und er als Papst
nicht die Macht hat, etwas anderes zu tun.
Wenn vergangene Entscheidungen unfehlbar sind, kann ich sie in der Gegenwart nicht ändern.
Diese Begründung zieht sich eigentlich bei allen lehramtlichen
Äußerungen durch, die die wesentlichen Forderungen auf Veränderungen in
der Kirche betreffen: Tut mir leid, war immer so in der Kirche, können
wir nicht ändern.
Damit entscheidet faktisch keiner.
Moralische Unfehlbarkeit
Die Kirche ist unfehlbar und mit ihr das Amt, das die Kirche als
Ganze repräsentiert: das Papstamt. Dieses Papstamt regelt sämtliche
Abläufe in der Kirche, und diese Abläufe bzw. die Amtsträger wie die
Bischöfe, die diese Abläufe garantieren, sind damit in einer gewissen
Weise Teil dieser Unfehlbarkeit und völligen Sündenlosigkeit.
Darum kann ein Bischof auch keine Fehler in der Missbrauchsgeschichte machen.
Darum kann ein Kardinal Müller in einem Satz sagen, das Gutachten nicht
gelesen zu haben, aber trotzdem von Ratzingers Unschuld überzeugt zu
sein.
Darum kann noch nicht einmal ein Priester als Amtsträger Missbrauch betreiben, sondern nur das Menschliche in ihm.
Darum wird man nie erleben, dass ein Josef Ratzinger nicht nur ein Bedauern, sondern eine persönliche Schuld gegenüber den Opfern feststellt.
Kein Bischof und kein Papst hält sich selbst als Person für unfehlbar
(hoffe ich zumindest). Aber sie sehen sich als Teil eines unfehlbaren
Systems. Hieraus ergibt sich die völlige Unfähigkeit, innerkirchliche
(und damit persönliche) Ursachen für ein Versagen zu erkennen und damit
überhaupt moralische Verantwortung wahrzunehmen.
Wahlweise sind der Zeitgeist, der Teufel, die Medien, die Moderne an sich oder sonst wer schuld.
Aber nicht das kirchliche Amt oder eine Person als Amtsträger.
Doppelte Unfähigkeit
Die Kirche hat sich innerlich festzementiert. Die Kirche ist
unfehlbar, und ein streng von oben nach unten durchorganisierter Apparat
wacht darüber, dass keine Veränderungen passieren können, da jede
wesentliche Veränderung ein Angriff auf die Unfehlbarkeit ist.
Dieser Zement hält die Kirche zusammen und macht sie von außen nahezu
unangreifbar. Aber dieser Zement tötet jedes geistige Leben, jeden
intellektuellen Aufbruch, jeden gläubigen Neuanfang.
Aus der Unfehlbarkeit ergibt sich eine doppelte Unfähigkeit:
die Unfähigkeit, die Vergangenheit zu sehen: vergangene Fehler
können nicht benannt werden und damit kann auch keine Verantwortung
wahrgenommen werden;
die Unfähigkeit, die Zukunft zu gestalten: neue Fragen und neue Problemlagen können nicht angemessen bearbeitet werden.
Die katholische Kirche befindet sich in einer Selbstblockade. Dies
müssten nicht nur diejenigen bedauern, die sich Reformen wünschen,
sondern auch diejenigen, die konservativ und eigentlich gegen Reformen
sind. Denn auch wenn jemand glaubt, dass die Kirche keine wesentlichen
strukturellen Veränderungen braucht, muss er ein Interesse an einem
regen geistigen Leben der Kirche haben. Auch alte Tradition müssen immer
wieder neu mit Leben gefüllt werden.
Fazit
Das Unfehlbarkeitsdogma hat die Kirche in eine Selbstblockade
geführt. Es wird zwar darauf verwiesen, dass diese Unfehlbarkeit
letztlich die Unfehlbarkeit der gesamten Kirche und aller Gläubigen ist,
zugleich wird aber gesagt, dass nur das römische Lehramt die
Möglichkeit hat, diese Unfehlbarkeit der gesamten Kirche festzustellen.
Unabhängig
von der Frage, wer in der Kirche jetzt unfehlbar ist: die Unfehlbarkeit
als solche ist bereits ein Problem. Natürlich muss eine Religion auf
einen Wesenskern verweisen, der sie definiert und konstituiert – das ist
aber keine Unfehlbarkeit, denn die bedeutet ja die Fähigkeit, diesen
Wesenskern in Gesetze zu gießen. Das kann auf Dauer nur zu einem
Fundamentalismus und zu einer Selbstblockade führen.
Als in Antike und Mittelalter die kirchliche Vernunft sich noch eins
fühlte mit der allgemeinen Vernunft – Theologie und Philosophie waren
eins -, hat die Kirche sehr genau darum gewußt, ihren Wesenskern nicht
in Buchstaben und Gesetze gießen zu können. So formulierte etwa das IV.
Laterankonzil 1215, dass “jede Aussage über Gott diesem eher unähnlich
als ähnlich sei”. Diese Haltung wurzelte in einem Respekt vor dem
göttlichen Geheimnis bzw. im Bewusstsein, nicht mit Gott identisch zu
sein. Von dieser Bescheidenheit hat die unfehlbare Kirche Abschied
genommen und erklärt jede ihrer lehramtlichen Äußerungen und Handlungen
zu faktisch unfehlbaren Aussagen und moralischen Geboten.
Um diesen Vorgang, den Wesenskern
der Kirche zu Gesetzen zu machen und damit zu moralisieren, geht es im
3. Blog und letzten Blog der Reihe “Die Krise der Kirche, Teil III: die
Moral”.
Ich war 15 Jahre lang tätig als katholischer Priester. Als solcher
ist mir damals natürlich nicht der besorgniserregende Zustand der Kirche
entgangen: immer leerer werdende Kirchen, immer weniger Priester,
massenweise Kirchenaustritte, Gemeindeschließungen usw. Diese Krise hat
sich in den letzten Jahren noch einmal verschärft durch die mangelhafte
Aufarbeitung der vielen Missbrauchsfälle. Aus einer Krise wird immer
mehr eine Existenzfrage.
Diese Symptome habe ich damals natürlich wahrgenommen und versucht zu
verstehen – auch als Professor für Philosophie: warum gibt es diese
Krise und was bedeutet sie für die Kirche?
An einem bestimmten Zeitpunkt habe ich damals entschieden, das
Priesteramt aufzugeben. Das zeugt nicht gerade von Optimismus und hat in
der Tat wesentlich mit dem zu tun, was ich gesehen, gelesen und gedacht
habe. Es sind drei Grundelemente, die ich für die aktuelle und
lebensbedrohende Krise der Kirche verantwortlich mache:
1. Anti-Vernunft,
2. Selbstblockade,
3. Moral.
Diese drei Elemente werde ich jeweils in einem Blog näher erläutern,
so dass diese dann den Dreiteiler „Die Krise der katholischen Kirche“
bilden. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht um eine Abrechnung
gegenüber der Kirche. Ich bin vielleicht nicht allzu optimistisch, was
ihre Zukunftsaussichten betrifft, aber wenn sie welche hat, dann muss
sie in der Lage sein, das abzustellen, was sie in ihre jetzige Situation
gebracht hat.
1. Unvernunft
Was ist das große Problem?
Wenn es darum geht, Reformen zu benennen, die die Krise beenden
sollen, werden gewöhnlich folgende Dinge genannt: Änderungen im
Verständnis des Priesteramts (Zölibat, Frauenpriestertum) sowie
Änderungen in der zentralistischen Struktur der Kirche (Papstamt,
Bischöfe).
Unabhängig
davon, ob diese Forderungen an sich berechtigt sind, muss man
feststellen, dass sie auf evangelischer Seite verwirklicht sind – ohne
dass es ihr wesentlich besser gehen würde. Die Krise der katholischen
Kirche kann daher nicht nur mit Fragen des Priesteramts oder des
Papstamtes zu tun haben, sondern muss tiefer sitzen.
Die Krise, unter der gleichermaßen die evangelische wie die katholische
Kirche leidet, ist damit weniger eine Krise der Institutionen, sondern
vielmehr eine des Glaubens: die Leute glauben nicht mehr an Gott, also
gehen sie nicht mehr in die Kirche.
Gerade von konservativer Seite wird gerne auf diesen allgemeinen
Glaubensverlust hingewiesen, weil er anscheinend impliziert: wir müssen
uns nicht ändern, wir müssen die Leute nur wieder neu missionieren,
damit sie wieder glauben.
So einfach ist es nicht.
Warum glauben die Leute denn nicht mehr?
Es hat nichts mit dem Verhalten von Papst oder Bischöfen zu tun. Auch
wenn die aktuellen Missbrauchsgeschichten ein harter Tobak sind:
moralisch zweifelbare oder verwerfliche Gestalten in hohen kirchlichen
Ämtern hat es schon immer gegeben. Die Leute haben trotzdem an Gott
geglaubt und die Kirchen waren trotzdem voll.
Also: warum glauben die Leute nicht mehr?
Wann die Krise begann …
Wenn man ein Problem genau erkennen will, ist es oft hilfreich, auf
die Zeit zu schauen, in der das Problem noch nicht bestand und sich dann
die Entstehung des Problems genau anzuschauen.
Wann war das?
Um auf Nummer Sicher zu gehen, schauen wir weit zurück in eine Zeit, die vor Glauben gerade übersprudelte: das Mittelalter.
Der
Mensch des Mittelalters war ein zutiefst gläubiger Mensch. Eine
derartige Einheit von Glaube, Kirche und Gesellschaft war einmalig. Der
Mensch fühlte sich jeden Tag vom Wirken und von der Magie Gottes
umgeben. Dass es Gott nicht gibt, war für ihn undenkbar.
Am Ende des Mittelalters beginnt dies allerdings zu bröckeln.
Über die Ursachen kann man jetzt lange spekulieren (oft wird die Pest
genannt), wichtig ist: die Einheit zwischen christlichem Glauben und
allgemeiner Weltsicht wird in Frage gestellt. Richtungweisend sind hier
Wilhelm von Ockham (1288-1347) und die Nominalisten und ihre
Fundamentalkritik an der bisherigen Erkenntnislehre.
Es geht letztlich darum, dass das Wissen über die Welt nicht aus
überlieferten Begriffen oder der Theologie kommen kann, sondern aus der
Welt selbst bzw. den Mitteln der Logik, mit denen die Welt beurteilt
wird.
Quelle aller Erkenntnis ist nicht mehr Gott, sondern die Welt. Die tiefe
Einheit von Philosophie und Theologie, die jahrhundertelang gehalten
hatte, war zerstört.
Das klingt etwas abstrakt und wenig konkret, war aber ein revolutionärer Einschnitt in die geistige Welt Europas.
Bis dahin galt: die Welt ist Schöpfung Gottes, und von dem, was wir
von Gott wissen, schließen wir auf die Welt. Gott war sozusagen das
Gesetz, nach dem die Welt funktionierte, Gott war die „Logik“, nach der
Welt beschreibbar war: „Im Anfang war der Logos.“
Das hörte nun auf: „Es ist kindisch zu sagen, ich kenne Schlussfolgerungen, weil Gott sie kennt und ich ihm glaube“, so Ockham kritisch. Die Theologie war auf einmal keine Wissenschaft mehr.
Was in der Welt passiert, hat nun irdische Ursachen und die muss man zur
Kenntnis nehmen, wenn man die Welt verstehen will. Das war nun
Wissenschaft.
Die Kirche versuchte dagegenzuhalten und nahm den Kampf auf, der zu
einem Kampf gegen die Wissenschaft wurde. Galileo Galilei lässt grüßen.
Die Aufspaltung der Vernunft
Was war nun das Gravierende an dieser Entwicklung?
Es war nicht die Tatsache, dass die Kirche nicht mehr den Anspruch erhebt, Naturgesetze besser zu kennen als Physiker.
Es ist die Aufspaltung der Vernunft.
Gott als Schöpfer (Quelle: www.wikipedia.org)
Die Kirche begann immer mehr zu unterschieden zwischen der „Vernunft der Welt“ und der „Vernunft des Glaubens“. Beide gehören unterschiedlichen Bereichen an.
Die Vernunft der Welt funktioniert nach der Welt. Wissenschaft. Fortschritt. Mode.
Die Vernunft des Glaubens funktioniert anders. Nach der Bibel. Nach der Kirche. Nach der Beziehung zu Gott.
Das Problem, das dahinter steht: diese Trennung, die im
Spätmittelalter begann, führte dazu, dass Gott mit der Welt nichts mehr
zu tun hatte. Bis dahin war Gott in der Welt präsent: alles, was in der
Welt passierte, hatte mit Gott zu tun. Jede Sache war selbstverständlich
in Beziehung zu Gott. Da stellte sich keiner die Frage, wo Gott ist.
Nun wurde Gott immer mehr aus der Welt hinausgenommen, die Beziehung zu
Gott lief nicht mehr über die Welt, sondern über eine Binnenwelt, eine
„Blase“, die mit der Welt nichts mehr zu tun haben wollte: die Kirche.
Die böse Welt
Diese feindselige Haltung gegenüber „der Welt“ erreichte wohl im 19.
Jahrhundert den Höhepunkt, als die Päpste alle „weltlichen“ Werte wie
Demokratie, Fortschritt, Wissenschaftlichkeit usw. offiziell
verurteilten.
Diese Haltung ist bis heute präsent. So etwa Josef Ratzinger in einer Predigt als Erzbischof in München (31.12.1979): „Der christliche Gläubige ist eine einfache Person. Aufgabe der
Bischöfe ist es deshalb, den Glauben dieser kleinen Leute vor dem
Einfluss von Intellektuellen zu bewahren.“
Kürzlich schrieben die polnischen Bischöfe einen Brief an ihre deutschen Mitbrüder von den „Versuchungen“, die darin bestehen, „die
Lehre Jesu ständig mit den aktuellen Entwicklungen in der Psychologie
und den Sozialwissenschaften zu konfrontieren. Wenn etwas im Evangelium
nicht mit dem aktuellen Wissensstand in diesen Wissenschaften
übereinstimmt, versuchen die Jünger, das Evangelium zu „aktualisieren“.“
Was diese Bischöfe völlig verkennen: diese „Aktualisierungen“ sind so alt wie die Kirche selbst.
Und sie sind notwendig. Das gesamte Grundgerüst der kirchlichen Lehre,
das Amtsverständnis, die Gotteslehre, die Christologie, die
Sakramentenlehre usw.: alles ist zeitgenössische Aktualisierung
biblischer Texte und damit indirekte, damals aktuelle Folgerung.
Warum soll diese Aktualisierung aus dem Jahr 325 oder 1563 oder 1870 mehr Wert haben als die von 2022?
Öffentliche Vernunft und nichtöffentliche Unvernunft
Um diesen Vorgang besser zu beleuchten, ist eine bestimmte
Interpretation des Vernunftbegriffs hilfreich: die öffentliche Vernunft.
Diese Interpretation stammt ursprünglich aus der antiken Stoa und
meint, dass sich etwas als vernünftig erweist, dass sich im Laufe der
Zeit in einem allgemeinen öffentlichen Dialog herausbildet (sensus
comunis). Später griff die Aufklärung diesen Begriff auf.
Was
sich in dieser öffentlichen Vernunft herausbildet, das ist gültig für
die Gesellschaft, sonst würde es sich nicht herausbilden. Diese Vernunft
ist ständigen Entwicklungen und Moden unterworfen, sie muss ständig auf
neue Fragen reagieren, sie kennt keine ewiggültigen Wahrheiten, sondern
das ewige Ringen um Wahrheiten.
Aus diesem Ringen um die öffentliche Vernunft hat sich die Kirche seit
dem Spätmittelalter zurückgezogen, mit Hinweis auf eine eigene,
religiöse und gegenweltliche Vernunft. Eine nichtöffentliche Gegen- oder
Anti-Vernunft statt eine öffentliche Vernunft. Mit schwerwiegenden
Konsequenzen.
Die schwerwiegendste Konsequenz besteht darin, dass im Laufe der
Jahrhunderte Gott für die Menschen immer belangloser wurde, immer
weniger greifbar, immer weniger konkret.
Das Schwerwiegende ist noch nicht einmal die kirchliche
Feindseligkeit gegenüber der allgemeinen und öffentlichen Vernunft. Die
Feindseligkeit war mal mehr oder weniger vorhanden. Das Schwerwiegende
ist bereits die Trennung.
Wie soll man auch etwas von Gott wahrnehmen, wenn er auf einmal nichts
mit der Welt zu tun hat? Mit den Dingen nicht mehr greifbar ist, die uns
umgeben?
Was ist zu tun?
Was ist zu tun? Was ergibt sich aus diesen jahrhundertelangen Entwicklungen?
Erst einmal: das Problem liegt tiefer als oft gedacht. Es ist nicht
lösbar mit einer Aufhebung des Zölibats oder der Abschaffung des
päpstlichen Zentralismus oder einem modern gestalteten Gottesdienst.
Die Kirche hat nicht nur das Problem, ihren Inhalt nicht mehr vermitteln zu können, sondern einen Inhalt zu haben, der nicht mehr vermittelbar ist.
Die Kirche muss nicht an ihrer Kommunikation arbeiten, sondern an dem, was sie kommunizieren will.
Der Inhalt der Kirche ist entstanden als die Kirche und ihr Gott Teil
der öffentlichen Vernunft waren. Der Inhalt der Kirche ist formuliert
mit den Begriffen der damaligen Philosophie, des Ausdrucks dieser
öffentlichen Vernunft.
Wie soll dieser Inhalt heute gültig sein, wenn die begrifflichen Grundlagen nicht mehr da sind?
Welchen Sinn macht es, von zwei Naturen in Christus zu sprechen,
wenn wir heute ein völlig anderes Verständnis von der „Natur“ einer
Sache haben?
Welchen Sinn macht es, von „drei Personen“ in einem „göttlichen Wesen“ zu sprechen? Was heißt das und wer kann es verstehen?
Welchen Sinn macht es beim Abendmahl, die Gegenwart Christi als
substanzhafte Präsenz zu deuten, wenn die damalige aristotelische
Substanzlehre nicht mehr gültig ist?
Keiner dieser Begriffe ist biblisch. Jeder ist eine nachträgliche,
zeitgenössische Interpretation. Und dieses zeitgenössische, begriffliche
Beschreiben hat die Kirche ab dem Ende des Mittelalters immer mehr
eingestellt mit dem Hinweis: wir sind hier und da ist die Welt.
Die Kirche muss an ihren Inhalt. Radikal.
Sie
wird erst dann wieder eine Chance haben, für die Menschen gültig über
Gott sprechen zu können, wenn sie versucht – wie damals – diesen Gott
mit den Mitteln der jeweils gültigen öffentlichen Vernunft zu
formulieren. Sie muss neue Begriffe finden, Gott zu erklären. Dann hat
Gott wieder eine Chance. Und seine Kirche auch.
Die Menschen können nur an einen Gott glauben, der auch etwas mit ihrer Welt zu tun hat.
Aus dieser Trennung kirchlicher und
weltlicher Vernunft ergeben sich die beiden anderen Elemente, die großen
Einfluss auf die Krise haben: Selbstblockade und Moral.
In der letzten Woche wurde in München ein Gutachten über den sexuellen Missbrauch im Erzbistum München der Öffentlichkeit vorgestellt. Es sind 1900 Seiten, deren Lektüre durchaus lohnenswert und bedrückend zugleich ist.
Im Brennpunkt des Gutachtens steht Joseph Ratzinger, der von 1977 bis 1982 Erzbischof in München war. Dies ist zwar nur ein kurzer Zeitraum, aber die Bedeutung Ratzingers für die Entwicklung der Gesamtkirche, die er als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst in den letzten Jahrzehnten entscheidend geprägt hat, rückt ihn zurecht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ratzinger hat die Regeln bestimmt, er hat bestimmt, wie die Kirche mit den Tätern und den Opfern von sexuellem Missbrauch umgeht und daher ist ein Blick auf ihn nicht nur interessant, sondern notwendig, um die Kirche der letzten Jahrzehnte verstehen zu können.
Die Stellungnahme Ratzingers
In satten 82 Seiten nimmt Ratzinger Stellung zu den gegen ihn in fünf Fällen erhobenen Vorwürfen, Priester wider besseren Wissens und teilweise trotz einschlägiger Verurteilungen wieder in der Seelsorge eingesetzt und damit dafür gesorgt zu haben, dass der sexuelle Missbrauch von Kindern durch diese Priester weitergehen konnte.
Der mittlerweile 94jährige Ratzinger gilt als geistig fit – so bestätigt es zumindest immer wieder sein Umfeld und so bestätigen es auch seine Veröffentlichungen. Er selbst gibt an (S. 2), dass die Erinnerung an die zurückliegenden Sachverhalte „auch heute sehr gut ist“.
Ratzinger weist sehr ausführlich jede Kenntnis der ihm vorgelegten Fälle von sich. Die Art und Weise, wie er dies tut und welche Argumente er vorbringt, ist jedoch wenig überzeugend: – Ratzinger gibt an, an den jeweils entscheidenden Sitzung des Ordinariats nicht teilgenommen zu haben. Dies tut er auch, wenn seine Anwesenheit in den Protokollen ausdrücklich notiert ist und Referate von ihm über andere Themen in der Sitzung vermerkt sind. In Bezug auf einen Fall hat Ratzinger mittlerweile zugegeben, anwesend gewesen zu sein, es sei aber nicht um das Thema Missbrauch gegangen. – Ratzinger gibt wiederholt an, dass ein Hinweis in den Akten, dass er zu informieren sei, nicht bedeuten würde, dass er wirklich informiert worden sei (S. 46, S. 56) – Ratzinger verweist in Fällen, in denen er nachweislich über Strafbefehle bestimmter Priester informiert wurde, darauf, dass er dann aber keine Information darüber erhalten habe, warum ein Strafbefehl erfolgt sei (S. 46, S. 47, S. 51)
Neben diesen nicht sehr glaubwürdigen Schutzbehauptungen tauchen auch inhaltliche Begründungen auf, die in mehrfacher Hinsicht nachdenklich machen: – In den betreffenden Jahren nach dem II. Vaticanum sei das alte kirchliche Gesetzbuch (CIC/1917) eigentlich nicht mehr gültig gewesen (S. 59: „wurde allgemein als nicht mehr in Geltung stehend angesehen“), während das neue Gesetzbuch noch in der Entstehung war (CIC/1983). Der Zeitraum von 1965 bis 1983 wird damit faktisch als rechtsfreier Raum dargestellt. Belege für eine solche Nichtgültigkeit des alten Gesetzbuches gibt es nicht. – Ein sexueller Missbrauch, der von einem Priester begangen wurde, wurde von ihm als Privatperson begangen und hat trotz staatlichem Strafbefehl keine Auswirkungen für sein Priestersein und stelle damit „keine Gefährdung seelsorglicher Tätigkeit“ dar (S. 48). – Exhibitionistische Handlungen sind keine Handlungen „mit Minderjährigen“, sondern nur „vor Minderjährigen“ (S. 60) und sind damit nicht als Missbrauch zu ahnden (Hervorhebung M.R.). – Wenn es keine direkte körperliche Berührung gibt, gibt es auch keinen Missbrauch: „Die Tathandlungen bestanden jeweils im Entblößen des eigenen Geschlechtsteils vor vorpubertären Mädchen und in der Vornahme von Masturbationsbewegungen, in einem Fall im Zeigen pornographischen Materials. In keinem der Fälle kam es zu Berührung“. Daher, so Ratzinger, sei der agierende Priester kein „Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn“. (S. 62)
Diese Äußerungen Ratzingers sind nicht abzutun als ein Einzelfall, den er hier in einer Hektik der Verteidigung unglücklich zusammengeschrieben hat. Sie sind nicht singulär, sondern entsprechen auch früheren Äußerungen von ihm und sie entsprechen auch dem kirchlichen Handeln. Nur vor diesem Hintergrund werden Ratzingers Äußerungen wirklich verständlich: nicht als Entgleisung, sondern als logische Konsequenz persönlichen und allgemein kirchlichen Handelns der vergangenen Jahrzehnte.
Kein Bischof und kein Papst ist schuld
Die Kirche muss sich der Tatsache stellen, dass auf der ganzen Welt Priester sexuellen Missbrauch Minderjähriger betrieben haben. Persönlich schuld ist jedoch niemand. Kein Bischof und kein Papst fühlt sich für diese Dinge verantwortlich, sei es, weil er nichts gewusst hätte oder sich nicht zuständig fühlte, sei es, weil das System Kirche insgesamt schuld ist, aber nicht er persönlich. Dies führt dann zur Situation, dass Papst Franziskus sämtliche von deutschen Bischöfen angebotenen Rücktritte nicht annimmt, da keiner verantwortlich ist, oder dass nach Veröffentlichung des Gutachtens Kardinal Müller in Rom lapidar feststellt, dass Ratzinger nicht schuld war – ohne nach eigenen Angaben das Gutachten auch nur gelesen zu haben. Diese vermittelte Verantwortungslosigkeit erstaunt, da sie sonst in der Kirche nicht gelebt wird und strukturell eigentlich unmöglich ist: die Kirche ist ja sehr klar und sehr hierarchisch von oben nach unten strukturiert und damit sind Macht und Verantwortung in der Kirche strukturell eindeutig verteilt. Warum nicht beim Thema Missbrauch?
Wer ist schuld?
a) Zeitgeist Ratzinger verweist gerne auf den Zeitgeist, so immer wieder in seiner Antwort an die Münchner Anwälte. Zum einen seien derartige Taten damals noch nicht in ihrer Schwere wahrgenommen worden, und daher nicht durch das kirchliche oder staatliche Recht greifbar gewesen – was faktisch nicht stimmt, worauf auch die Gutachter hinweisen. Die Täter werden strafrechtlich verurteilt – dann ist man nicht in der Lage, ein Unrecht zu erkennen? Zum anderen wird gerne darauf verwiesen, dass es der Zeitgeist war, der die Menschen – und damit auch die Priester – „übersexualisiert“ hätte. Der Kindesmissbrauch, so Ratzinger noch ausführlich 2019 in einem Aufsatz, sei die Konsequenz der sexuellen Freiheit der 68er.
b) Medien 2002 hielt Ratzinger – damals noch Kardinal – im spanischen Murcia eine Rede, in der er die immer mehr bekannt gewordenen Fälle als Teil einer „orchestralen Kampagne“ der Medien bezeichnete, die Einzelfälle mit böser Absicht aufbauschen würde. Auf dem bisherigen Höhepunkt der Entwicklung 2010 und den Ermittlungen in den USA bezeichnete der damalige Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano die Enthüllungen als „dummes Gequatsche“, Kardinal Müller die jetzigen Veröffentlichungen als „nicht überraschende“ Kampagne gegen Ratzinger.
c) Teufel Im Februar 2019 hielt Papst Franziskus die Abschlussrede zum kirchlichen Missbrauchsgipfel im Vatikan. Der Papst blieb erschreckend nebulös und sprach vom „Bösen“, das sich gegen das Schwache richtet, und von den Priestern, die zu „Werkzeugen des Teufels“ geworden seien. Ähnlich sprach auch Ratzinger in seinem Artikel von 2019 vom Teufel, der mit seiner Macht die Kirche in Versuchung führt.
d) System Kirche Die Häufung von Missbrauchsfällen ist nicht eine Häufung von Einzelfällen, sondern eine Folge einer bestimmten Art und Weise, wie die Kirche in ihren Machtstrukturen funktioniert: das „System Kirche“. Auf dieses „System“ wird in den letzten Monaten verstärkt verwiesen, um die handelnden Personen als hilflose Teile des Systems zu entlasten. Abgesehen davon, dass diese Personen keineswegs „hilflose“ Teile des Systems, sondern vielmehr die bestimmenden Kräfte dieses Systems waren: „das System“ gibt es an sich gar nicht. „Das System“ ist eine hilfreiche, aber konstruierte Beschreibung von zwischenmenschlichen Handlungen. Die eben von Menschen begangen werden, die für das verantwortlich sind, was sie tun – oder nicht tun.
Ob jetzt Zeitgeist, Medien, der Teufel oder das System: es sind Versuche, die Verantwortung von der kirchlichen Hierarchie auf irgendwelche diffusen bösen Mächte abzuwälzen. Weder führt größere sexuelle Freiheit zum Missbrauch von Kindern, noch entbindet eine breite mediale Präsenz des Themas Missbrauch von der Frage, warum denn der Inhalt der Berichte leider stimmt, noch entbindet ein System diejenigen, die es leiten, von jeder Verantwortung. Den Teufel lassen wir jetzt mal außen vor, auch wenn in den letzten 20 Jahren durch Johannes Paul II. und Ratzinger die weltweite Exorzistenausbildung forciert wurde.
Letztlich sind es hilflose Versuche, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Die Verantwortung ist in der jetzigen Struktur der Kirche relativ klar geregelt und damit eindeutig auf Seiten der Bischöfe und des Papstes – die ja sonst wenig Schwierigkeiten haben, diese Verantwortung für sich zu reklamieren.
Missbrauch nicht erkannt?
Der Verweis darauf, dass man den Missbrauch damals einfach nicht richtig hat erkennen können, ist aus zwei Gründen abzulehnen:
Missbrauch wird auch heute nicht erkannt bzw. vertuscht: wenn heute Unwille, dann auch damals Die Fähigkeit, den Missbrauch zu erkennen, aufdecken zu wollen und angemessen zu reagieren, ist auch heute nicht vorhanden – trotz mittlerweile vieler interner und externer Gutachten.
Dies gilt nicht nur für Ratzinger, und dies ist nicht nur Naivität und Unfähigkeit, sondern auch Unwille, der deutlich wird, – wenn etwa Kardinal Meisner empört ausruft „Ich habe das nicht geahnt!“, er selbst aber die entsprechenden Akten über die „Brüder im Nebel“ angelegt hat, – oder wenn der zuständige römische Kardinal Hoyos dem französischen Bischof Pican dafür dankt, nicht mit staatlichen Stellen zu kooperieren, – oder wenn vor wenigen Wochen bei einem Prozess in Köln herauskommt, dass der jetzige Erzbischof von Hamburg und damalige Personalreferent in Köln, Stefan Heße, keine Protokolle anfertigen ließ, da diese „beschlagnahmefähig“ seien.
Wenn ein Gutachten veröffentlicht wird, äußern sich regelmäßig die Bischöfe „erschrocken“ und „überrascht“. Abgesehen davon, dass mit der steigenden Anzahl Gutachten diese Äußerungen immer weniger glaubwürdig werden: die Gutachten beruhen ausschließlich auf aktenkundigen Fällen, die die Bistümer den Gutachtern zur Verfügung gestellt haben.
Wie kann man über das überrascht sein, was in den eigenen Akten steht?
Der Verweis auf eine damalige Unfähigkeit, Missbrauch zu erkennen und ehrlich damit umzugehen, ist schon deshalb ungültig, weil auch heute die Kirche derart unter dieser mangelnden Fähigkeit leidet, dass man damals wie heute nicht von einer Unfähigkeit, sondern von einem Unwillen sprechen muss. Damals wie heute konnte man, aber man wollte nicht.
Leid der Opfer Der andere Grund, warum der Hinweis auf eine damalige Unkenntnis nicht verfängt, ist das offensichtliche Leid der Opfer. Und damit kommen wir zum zentralen Punkt der Anklage gegenüber der Kirche.
In der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs durch kirchliche Amtsträger geht es nicht in erster Linie um Verfahrensfragen, sondern ganz fundamental um die Frage, wie es sein kann, dass weltweit Hunderttausende Kinder missbraucht werden konnten von Menschen, die als Priester ihr Leben der Liebe Gottes versprochen haben, und diese Täter dann auch noch von der Kirche gedeckt und weiter im Dienst gehalten wurden.
Die fundamentale Anklage an die Kirche ist nicht die Frage, warum man vor 50 Jahren noch keinen Missbrauchsbeauftragten hatte, sondern die Frage, warum die Kirche wider besseren Wissens die Täter weiter gewähren ließ.
Wie kann man ernsthaft darauf verweisen, dass man damals noch nicht in der Lage war, ein Unrecht zu erkennen, wenn Kinder von Priestern vergewaltigt werden und man oft sogar ein Geständnis auf dem Tisch hatte? Wie kann man auf die Idee kommen, dass es keine ernsthaften Auswirkungen auf das Leben eines Menschen hat, wenn er als Kind vergewaltigt wird oder einen erwachsenen Mann befriedigen muss? Wenn man glaubte, Therapien könnten die Täter heilen, warum wurden sie dann nicht kontrolliert? Die Therapien und die Täter? Warum war und ist der eigene Ruf immer wichtiger als die Situation der Opfer? Wie kann man mit einer Unkenntnis über Missbrauch argumentieren, wenn das Leid der Opfer doch eigentlich sehr konkret ist? Man muss es nur sehen wollen.
Was muss passieren?
Wahrnehmung von Verantwortung Trotz der klaren hierarchischen Struktur der Kirche scheinen der Missbrauch sowie die Aufarbeitung des Missbrauchs in einem Verantwortungs-Vakuum zu geschehen. Es muss nun darum gehen, Verantwortung wahrzunehmen, und dies auf mehreren Ebenen: – Zuallererst gegenüber den vielen Opfern, die auf eine angemesse Entschädigung, aber vor allem auf Anerkennung ihres Leids und auf einen respektvollen Umgang warten müssen. – Zum anderen bedeutet Verantwortung, dass die Personen der kirchlichen Leitung, die ihrer Verantwortung damals wie heute nicht gerecht geworden sind, in ihrem Versagen benannt werden, von ihren Leitungsaufgaben entbunden werden, und sich kirchlicher und staatlicher Rechtsprechung stellen müssen.
Aufklärung Die bisherigen Gutachten, die in Deutschland erschienen sind, haben als Grundlage die von den Bistümern an die Forscher herausgegebenen Personalakten sowie Befragungen, die auf diesen Akten beruhen. Auf dieser Grundlage benannte die MHG-Studie 3766 Missbrauchsopfer. Vergleiche mit anderen Ländern, in denen die Untersuchung deutlich breiter angelegt war, kommen auf deutlich höhere Zahlen (USA, F, NL), so dass davon auszugehen ist, dass die bisher in Deutschland benannten Zahlen nur einen geringen Teil der realen Opferzahlen abdecken. Hier hat die Kirche die Pflicht, nicht nur durch äußeren Druck, sondern durch eigenen Antrieb die wahren Ausmaße des Missbrauchs zu ermitteln und sich dem zu stellen.
Führung Die Nichtdurchsetzung eigener moralischer Vorschriften sowie die kollektive Nichtwahrnehmung von Verantwortung verweisen auf ein massives Führungsproblem in der Kirche. Es stellt sich die Frage, ob die Kriterien, nach denen das kirchliche Führungspersonal ausgewählt wird, die richtigen sind. Diese Kriterien sind sehr eindeutig durch Papst Johannes Paul II. festgelegt worden und bestimmen, welche Eigenschaften eine Person haben muss, die Bischof werden soll.
Zu diesen benannten Eigenschaften gehören nicht etwa Führungserfahrung oder wirtschaftliche Grundkenntnisse, sondern beispielsweise das tägliche Tragen von Priesterkleidung, Gehorsam gegenüber dem Papst, marianisch geprägte Frömmigkeit sowie das öffentliche Eintreten für die legendäre Pillenenzyklika. Ob diese Kriterien die richtigen sind, um das kirchliche Führungspersonal auszuwählen, das in der jetzigen Situation gebraucht wird, ist mehr als fraglich. Hier muss die Kirche nachbessern und reflektieren, welches Verständnis von Leitung und Führung sie hat und durch welche Eigenschaften diese bestimmt sind.
System Kirche Wenn man die Struktur der Kirche systemtheoretisch analysiert, fällt auf, dass das System Kirche ohne „normale“ Gläubige funktioniert. Die Struktur der Kirche wird alleine durch die Gliederungen des kirchlichen Amts gesichert. Entsprechend wird die kollektive Flucht der Gläubigen aus der Kirche von den Amtsträgern achselzuckend zur Kenntnis genommen: „Wenn die Leute die Kirche verlassen, ist das ihre Entscheidung, da haben wir nichts mit zu tun“, so die Zitate der Bischöfe. In den 90er Jahren stellte Ratzinger in einem Interview über die Situation der deutschen Kirche ohne Bedauern fest, dass es in der Geschichte immer wieder vorgekommen sei, dass die Kirche in bestimmten Ländern verschwinde. Gremien von Nichtpriestern sind nie mehr als schmückendes Beiwerk ohne jede Entscheidungskompetenz. Die letzte Entscheidung hat immer ein Priester oder ein Bischof. Dies geht hoch bis zum sog. „Synodalen Weg“, der gerade in der deutschen Kirche vorangetrieben wird: Laien und Bischöfe beraten, entscheiden tun die Bischöfe.
Diese strenggenommen auf das Amt reduzierte Struktur macht die Kirche zum einen sehr fest gegen äußere Angriffe, führt aber auch zur Entstehung einer in sich geschlossenen Kleriker-Kaste. Hier muss die Kirche als Ganze über ihr Selbstverständnis nachdenken: Ist Kirche das Amt? Muss Kirche das Amt sein? Entspricht die Struktur des Amtes dem, was im Neuen Testament als Nachfolge formuliert wird? Die Kirche muss sich in radikaler Form ihrem Amtsverständnis stellen. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob Priester heiraten sollen oder nicht, sondern ganz fundamental um die Frage, ob es ein kirchliches Amt geben muss, wenn ja, wie es aussehen soll, wenn nein, wie eine kirchliche Struktur ohne Amt hergestellt werden kann.
Zusammengefasst muss es für die Kirche darum gehen, sich eine Struktur zu geben, die nicht nur vom Amt, sondern von jedem Christen geprägt ist.
Compliance Zur Sicherung ethischer und regelgerechter Abläufe in Unternehmen werden bestimmte Verfahren und Mechanismen eingesetzt, die unter dem Begriff „Compliance“ bzw. „Compliance Management System“ firmieren. Sämtliche großen Unternehmen verfügen über derartige Systeme, um ein Grundmaß an gelebter Moral, aber auch an Seriosität und Glaubwürdigkeit abzusichern. Wichtiger Bestandteil solcher Systeme sind Hinweisgeber- bzw. Whistleblowingsysteme, durch die Regelverstöße jeder Art schnell aufgedeckt werden können. Die Kirche wird sich für diese Systeme öffnen müssen, um nach innen und außen eine glaubwürdige Transparenz zurückzugewinnen und neues Unrecht schnell entdecken zu können.
Kirchliches Sonderrecht Der jahrzehntelange Missbrauch Minderjähriger in der katholischen Kirche wirft auch die Frage auf, warum die staatliche Justiz hier ganz offensichtlich zu wenig Zugriff hatte. Dies liegt einerseits sicherlich an einem gewissen (zusehends verschwindenden) moralischen Bonus der katholischen Kirche bzw. an einem gewissen Wohlwollen, das Vertreter der Justiz der Kirche entgegenbrachten.
Andererseits liegt dies aber auch an der besonderen rechtlichen Stellung, die die Kirche gerade in Deutschland innehat. Dies betrifft Besonderheiten des kirchlichen Arbeits- und Vermögensrechts, aber auch die Tatsache eines besonderen Rechtsschutzes: so sind die rechtlichen Hürden der Justiz, effektiv in der Kirche aufklären zu können (etwa durch eine Hausdurchsuchung, um Akteneinsicht zu gewinnen) deutlich höher als bei allen anderen Organisationen und Unternehmen, vergleichbar mit staatlichen Institutionen. Diese Sonderrechte sind teilweise bereits durch den Europäischen Gerichtshof auf dem Prüfstand. Hier muss sich jedoch auch der deutsche Gesetzgeber mit Blick auf den jahrzehntelangen Missbrauch fragen, wo das kirchliche Sonderrecht einen rechtsfreien Raum geschaffen hat und wie ein solcher zukünftig zu verhindern ist.
Fazit
Das Bild, das die Kirche seit Jahrzehnten darbietet und das in seinen Konturen in der Öffentlichkeit immer deutlicher wird, ist ein Bild des Jammers und einer völligen moralischen Selbstzerstörung. Gerade für eine Institution wie die Kirche mit ihrem hohen moralischen Anspruch ist dieses Versagen schlicht und einfach selbstmörderisch. Und dies müssen die leitenden Personen der Kirche endlich erkennen.
Man hat – handwerklich wie moralisch schlecht – versucht, den Missbrauch zu vertuschen in dem Glauben, eine reine Weste zu behalten und das Ansehen der Kirche nicht zu beschmutzen. Die äußere Fassade wurde zu einem Fetisch.
Vor einigen Tagen fragte der Journalist Zamperoni in einer Nachrichtensendung den Essener Bischof Overbeck, wie denn die Kirche ihr Ansehen wiederherstellen will. Die Frage verrät, dass auch die Beobachter der Kirche auf diesen Fetisch des Ansehens hereinfallen. Es darf nicht primär um das Ansehen gehen, darum, wie die Kirche nach außen wirkt, sondern es muss in erster Linie darum gehen, was in der Kirche passiert. Nur auf das Ansehen zu achten, war der Grundfehler der Kirche in den Missbrauchsfällen. Es geht um die Realität, nicht um ihre Darstellung. Und diese Realität bestand in der vieltausendfachen Ruinierung menschlicher Leben durch den sexuellen Missbrauch. An der Realität muss gearbeitet werden, nicht am Ansehen.
Die Kirche in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern taumelt ihrem Untergang entgegen, einem Untergang, an dem nicht die Gesellschaft oder der Zeitgeist oder die Sexualität der Menschen schuld sind, sondern die Kirche selbst. Nur wenn sie dies erkennt, kann aus diesem Untergang ein neuer Aufbruch werden. Allzu optimistisch sollte man nicht sein.
Vor einigen Jahren las ich die autobiographischen Aufzeichnungen des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss. Hier erzählte Höss eher beiläufig, dass die Nazis damals in Polen und anderen Ostgebieten massiv das Gerücht streuten, dass Impfen gesundheitsschädlich sei, um auf diese Weise die dortigen Bevölkerungen anfälliger für Krankheiten zu machen und so zu dezimieren.
Diese Episode fiel mir schon damals auf und kommt mir gerade in diesen Monaten immer wieder in den Sinn – zumal die Parolen, die damals in Osteuropa von den Nazis verbreitet wurden, heute wieder zu hören sind: Impfen ist gesundheitsschädlich, macht unfruchtbar, die Langzeitfolgen sind nicht absehbar usw.
Nicht, dass das Impfen bei den Nazis selbst völlig unumstritten gewesen wäre: Heinrich Himmler lehnte das Impfen als „widernatürlich“ ab, Julius Streicher vermutete einen jüdischen Versuch, die Welt zu vergiften. Offizielle Politik der Nazis in Deutschland war jedoch, massiv für das Impfen zu werben, um die Wehrfähigkeit des Reichs zu erhalten.
Ich will nicht unterstellen, dass heutige Impfkritiker den Nazis nahestehen. Was mir allerdings auffällt, sind die Argumentationsmuster, die wieder auftauchen.
Seitdem es das Impfen gibt, gibt es Gegner und Kritiker. Seit etwas
über 200 Jahren wird geimpft (erstmals 1796 gegen die Pocken), die
Kritik war eigentlich immer die gleiche: ein illegitimer Eingriff in die
körperliche Unversehrtheit, nicht absehbare Langzeitfolgen,
Sexualkrankheiten („Syphilisierung“, Unfruchtbarkeit), gewollte
Vergiftung durch einen geheimen Feind (damals die Juden, heute Bill
Gates).
Auf der anderen Seite stehen die erfolgreiche Bekämpfung diverser Krankheiten, die als ausgerottet gelten (Pocken) oder stark eingeschränkt wurden (Kinderlähmung, Masern, Pest, Cholera, Tuberkulose, Diphterie usw.).
Unterm Strich muss man sagen, dass die Geschichte des Impfens eine Erfolgsgeschichte ist, die vielen Millionen Menschen das Leben gerettet hat – und dessen Nichtbeachtung bis heute viele Leben kostet. Jedes Jahr sterben laut Angaben von UNICEF noch immer alleine 3 Millionen Kinder ungeimpft an Krankheiten, gegen die ein Impfstoff verfügbar wäre.
Die Geschichte des Impfens und die Geschichte ihrer Gegnerschaft muss
man kennen, um die aktuelle Situation einschätzen zu können.
Durch diese Geschichte werden zwei Dinge deutlich: es hat schon immer Kritik gegeben und sie war noch nie faktenbasiert. Auffällig ist zudem, dass der Anteil der Bevölkerung, die dem Impfen sehr skeptisch gegenübersteht, in den deutschsprachigen Ländern deutlich höher ist als in anderen Ländern.
Impfen?
Was bedeutet das nun für die heutige Situation im Umgang mit Covid
19? Wie ist das Impfen zu beurteilen? Kann und darf man zum Impfen
verpflichten?
Die Corona-Pandemie ist gerade in Deutschland datenmäßig sehr schlecht erfasst. Weder gibt es Daten, welche staatlichen Maßnahmen welche Wirkungen erzielten, noch gibt es genaue Daten, wo man sich eigentlich genau mit dem Corona-Virus infiziert. Dieses Defizit hat seine Ursachen in einer kaum vorhandenen Digitalisierung der Behörden (Stichwort Fax-Gerät) und in einem schlechten Krisenmanagement der Regierung.
Die Daten- und entsprechend die Faktenlage ist also ausgesprochen
schlecht. In einer Sache aber ist die Datenlage eindeutig: beim Impfen.
Die Viruslast eines Nicht-Geimpften ist höher als bei einem Geimpften. Geimpfte können sich infizieren, aber deutlich seltener. Geimpfte können auch auf der Intensiv-Station landen, aber deutlich seltener.
Wenn eine Gruppe von 20% der Bevölkerung 80% der Intensivbetten
belegt, dann spricht das eine deutliche Sprache. Wenn die deutschen
Regionen mit niedrigen Impfquoten deutlich höhere Infektionszahlen
haben, spricht das ebenfalls eine deutliche Sprache.
So liegt in diesen Tagen in Sachsen beispielsweise die Inzidenz bei
Geimpften bei 64. Die der Ungeimpften bei 1823. Das Risiko, an Corona zu
sterben, ist ohne Impfung 32x wahrscheinlicher.
Hier liegt bereits ein schwerer und fahrlässiger Fehler in der
Kommunikation vor, wenn einzelne Politiker oder sonstige Personen es für
das Infektionsgeschehen als gleichgültig bezeichnen, ob viele Menschen
geimpft sind oder nicht. Der Einfluss auf das Pandemiegeschehen ist
eindeutig.
Freiheit?
Die persönliche Freiheit, über sein Leben zu entscheiden, ist ein hohes Gut. Das entsprechend oft von Impfgegnern zitiert wird. Anders als oft behauptet, betrifft die Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen, jedoch nicht nur die Person selbst.
Spätestens die Verschiebung von Operationen in den Krankenhäusern durch die starke Zunahme von Covid-19-Patienten macht dies deutlich. Das Entscheidende hierbei ist die Möglichkeit, das Virus weiterzugeben und damit indirekt auch Leute in Gefahr zu bringen, die einem hohen Risiko ausgesetzt sind. Diese Möglichkeit gibt es zwar auch bei Geimpften, aber sie ist deutlich geringer – für die Ausbreitung des Virus entscheidend geringer.
Durch die Gefährdung anderer ist die Entscheidung, sich nicht impfen
zu lassen, nicht nur eine persönliche Entscheidung. Und hieraus ergibt
sich auch eine moralische Verpflichtung, sich impfen zu lassen.
Der Hinweis auf die persönliche Freiheit verfängt nicht, da die Freiheit des einen da aufhört, wo die des anderen betroffen ist. Die Freiheit ist kein absolutes Recht – sonst würde es keine Gesetze geben, die als Gesetze immer darauf abheben, persönliche Freiheit einzuschränken, um ein gesellschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen.
Um die Gefährdung anderer zu vermeiden und durch das faktisch nicht
vorhandene persönliche Risiko einer Impfung besteht eine moralische
Verpflichtung sich impfen zu lassen. Entsprechend sollte diese
moralische Verpflichtung auch als solche dargestellt werden. Es ist
nicht gleichgültig, ob sich jemand impfen lässt, sondern es hat
gesellschaftliche Konsequenzen. Dies gilt es auch zu benennen.
Es gilt aber auch: eine moralische Verpflichtung ist eine
Selbstverpflichtung, keine Pflicht, die von außen durchzusetzen ist. Ist
eine Impfpflicht legitim?
Impfpflicht?
Ganz offensichtlich ist das Impfen ein wirksames Mittel, die
Verbreitung des Virus einzudämmen. Die ethische Frage, ob sich daraus
eine Impfplicht ergeben kann, ist abhängig von 3 Kategorien:
Gibt es eine Notlage, die eine solche Pflicht rechtfertigt?
Wenn ja, gibt es eine Alternative, diese Notlage zu verhindern?
Besteht ein persönliches Risiko?
Zu 1.) Hier in den Niederlanden und in den Teilen Deutschlands mit hohen Inzidenzzahlen müssen die Krankenhäuser bereits Operationen verschieben. Triagen sind in Österreich angekündigt. Das Verheerende ist, dass bereits ein Corona-Patient mehrere andere Operationen verhindert, da seine Liegezeit deutlich länger ist als die eines durchschnittlichen anderen Patienten, der operiert wurde. Heißt: ein Corona-Patient verhindert 3 andere Operationen.
Angesichts der sich auf den Intensivstationen verschärfenden Situation kann man von einer sich anbahnenden Notlage sprechen, die systemimmanent (mehr Betten, mehr Operationen) nicht auf die Schnelle lösbar ist. Möglicherweise wäre diese Situation durch frühere Investitionen im Gesundheitswesen vermeidbar gewesen. Aber zum einen kann man ein Gesundheitswesen nicht konstant auf eine Pandemiesituation ausrichten und zum anderen ändert das nichts an der aktuellen Situation. Und nur die zählt.
Zu 2.) Der Staat greift in das Infektionsgeschehen
ein, indem er die Kontaktmöglichkeiten von Infizierten verringert. Dies
tut er durch einen mehr oder weniger vollständigen Lock-Down. Nun hat
sich der Lock-Down als ein sehr zweischneidiges Instrument erwiesen, das
viele negative Folgen hat, die ökonomischer, sozialer und psychischer
Natur sind. Einige Länder gehen dazu über, derartige Maßnahmen nur für
Nicht-Geimpfte zu verhängen, andere – wie die Niederlande – führen einen
mehrwöchigen „Teil-Lockdown“ für alle durch.
Nun muss eine ethische Güter-Abwägung stattfinden: Lockdown oder Impfen? Was ist das kleinere Übel? Ist es berechtigt, eine ganze Gesellschaft lahmzulegen, weil eine Minderheit sich weigert, sich zu impfen? Ist es berechtigt, jemanden, der sich nicht impfen lassen will, vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen?
Zu 3.) Impfgegner sprechen oft von einem hohen persönlichen Risiko, das mit einer Impfung verbunden ist. Sicher gibt es Nebenwirkungen und gibt es (wenige) Menschen, denen aus medizinischen Gründen von einer Impfung abzuraten ist.
Das persönliche Risiko bei einer Impfung ist als äußerst gering bis faktisch kaum vorhanden einzuschätzen. Zum einen hat der Impfstoff eine reguläre Testphase durchlaufen. Dass diese deutlich schneller war als sonst üblich hat nichts mit mangelnder Sorgfalt oder aufgeweichten Kriterien zu tun, sondern damit, dass aufgrund der einmalig hohen Finanzmittel viele Schritte und Testkapazitäten beschleunigt werden konnten. Zum anderen kann ein Impfstoff keine negativen Langzeitfolgen haben. Er hat evtl. Nebenwirkungen, die in den ersten Tagen auftreten (v.a. Thrombose bei Astra-Zeneca). Er kann aber keine Langzeitfolgen haben, die erst nach längerer Zeit auftreten. Da mittlerweile 7 Milliarden Impfungen verteilt wurden, dürften Nebenwirkungen bekannt sein. Neu entstehende Langzeitfolgen sind schon deshalb nicht möglich, weil der Impfstoff nach wenigen Tagen nicht mehr im Körper ist.
Ein realistisches persönliches Risiko durch die Impfung besteht also nicht.
Zusammenfassung
Ich bin kein Mediziner, ich bin Philosoph.
Ich muss mich auf die Informationen verlassen, die ich bekomme, die
ich allerdings auch auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüfen kann.
Wenn die Situation so ist, wie die Medien es beschreiben und wie es auch Bekannte von mir beschreiben, die im medizinischen Bereich tätig sind, dass die Situation in den Krankenhäusern sich verschlimmert und notwendige Operationen verschoben werden müssen,
wenn es so ist, dass sich in der Bekämpfung der Pandemie kein anderes Werkzeug als so effektiv herausgestellt hat wie die Impfung (etwa gegenüber dem Lockdown und seinen Schäden),
wenn es so ist, dass bei einer Impfung faktisch kein persönliches Risiko für den Geimpften vorhanden ist,
dann ist auch aus ethischer Sicht eine staatliche Impfpflicht zu rechtfertigen, wie es sie immer wieder gegeben hat und auch heute gibt (etwa bei Reisen).
Diese Impfpflicht kann sich auf eingegrenzte Berufe oder Personen
beschränken, die besonders gefährdet sind oder andere gefährden, wäre
aber je nach Notlage auch für die ganze Bevölkerung begründbar.
Dagegen steht nicht der Hinweis auf die persönliche Freiheit, die nicht absolut ist, sondern da aufhört, wo sie die Freiheit des anderen betrifft.
Dagegen steht nicht der Hinweis auf ein persönliches Risiko, was offensichtlich kaum vorhanden ist und in keinem Verhältnis zum Risiko einer Infektion oder Infektionsweitergabe steht.
Dagegen steht vor allem nicht der Hinweis auf eine Spaltung der Gesellschaft, die gerade erst durch diese Hängepartie vorangetrieben wird. Hier ist die Rolle der verschiedenen Regierungen etwa in Deutschland oder den Niederlanden sehr kritisch zu sehen, die harte Maßnahmen gegen die ganze Bevölkerung ankündigen und anscheinend auf diese Weise den Druck auf die Nichtgeimpften erhöhen wollen, ohne eine Impfpflicht auszusprechen. Das Ergebnis ist eine Verschärfung der Spaltung – nicht durch eine Impfpflicht, sondern durch Druckaufbau ohne Impfpflicht.
Wir stehen jetzt am Beginn der 4. Infektionswelle. Die Staaten haben alles Mögliche versucht. Man kann zu Recht fragen, ob diese Versuche optimal gelaufen sind, aber nach jetzt knapp 2 Jahren Corona kann man feststellen, dass es alles nichts gebracht hat: die nächste Welle kommt immer. Die bisherigen Maßnahmen erinnern an den Versuch, ein Feuer mit drastischen Maßnahmen zu löschen, ohne dabei aber an einen langfristigen Brandschutz zu denken, der das Ausbrechen des Feuers verhindert.
Die Frage, die sich stellt: kommen wir überhaupt aus diesem ewigen pandemischen Kreislauf heraus ohne eine halbwegs flächendeckende Impfung? Angesichts der Erfahrungen der letzten beiden Jahre muss man dies verneinen. Demgegenüber stehen die Zahlen von Ländern mit hohen Impfquoten, die über deutlich geringere Infektionszahlen und deutlich geringere Sterbezahlen verfügen und deren Bevölkerungen wieder ein normales Leben führen können.
Wenn eine Notlage vorliegt und wenn sich in der Tat die Impfung als einziger Ausweg aus der Pandemie erweist, hat der Staat das Recht und vielleicht auch die Verpflichtung, eine Impfpflicht einzuführen. Dieser Eingriff in die persönliche Freiheit wäre sicherlich wichtiger und besser begründet als viele andere Eingriffe, über die sich keiner aufregt.
Vor wenigen Tagen, am 4. Juni, gab Kardinal Marx, Erzbischof von München, bekannt, dass er von allen seinen Ämtern zurücktreten will und in dieser Angelegenheit an den Papst geschrieben habe. Marx gilt als eine der mächtigsten Personen der katholischen Kirche in Deutschland. Entsprechend schlug diese Nachricht innerhalb wie außerhalb der Kirche wie eine Bombe ein.
Das Rücktrittsgesuch, das Marx veröffentlichte, hat durchaus Sprengstoff. Als wesentlichen Grund sieht er den Umgang mit dem Thema Missbrauch – sowohl durch ihn persönlich als auch durch die Katholische Kirche. Die letzten zehn Jahre, so Marx, „zeigen für mich durchgängig, dass es viel persönliches Versagen und administrative Fehler gab, aber eben auch institutionelles oder ‚systemisches‘ Versagen“. Dieses Versagen würden „manche in der Kirche“ nicht wahrnehmen wollen und daher jede Veränderung blockieren. Ihm gehe es darum, mit diesem Rücktritt persönliche Verantwortung als Amtsträger der Kirche wahrzunehmen.
Dann folgen Sätze, die durchaus als Wink mit einem ganzen Zaun an andere Amtsträger wahrgenommen werden können:
„Um Verantwortung zu übernehmen reicht es aus meiner Sicht deshalb nicht aus, erst und nur dann zu reagieren, wenn einzelnen Verantwortlichen aus den Akten Fehler und Versäumnisse nachgewiesen werden, sondern deutlich zu machen, dass wir als Bischöfe auch für die Institution Kirche als Ganze stehen.“
Was passiert da gerade in der Katholischen Kirche?
Vor wenigen Wochen war ein befreundetes Paar mehrtägig bei
uns zu Besuch in Rotterdam. Leidiges Thema: Besuch = mehr schmutziges Geschirr.
Am Morgen schwang ich mich entgegen der Erwartungen aller
auf und fing noch vor dem Frühstück an, das Geschirrproblem zu beseitigen. Die
Bekannte, die bei uns zu Gast war, kam gerade vom morgendlichen Laufen wieder,
sah mich fleißig in der Küche und entschuldigte sich, dass sie nicht geholfen
hätte. Sie würde sich möglichst schnell revanchieren. „Kein Problem“, sagte
ich, „ich kann auch gut eine Weile mit Deinen Gewissensbissen leben.“ Dann
folgte eine sehr kluge Antwort: „Das ist sehr katholisch!“
Wir wollen jetzt nicht lange darüber nachdenken, wie sehr
ich bewusst und unbewusst von meiner katholischen Vergangenheit geprägt bin.
Wichtig ist hier die treffende Beobachtung eines bisherigen Prinzips der
katholischen Kirche durch meine Bekannte: die Sünde nicht zu bekämpfen, sondern
sich zunutze zu machen.
Vergehen von Amtsträgern wurden nicht oder eben nicht zureichend geahndet. Aus Sorge um das Ansehen der Kirche entstand eine Kultur des Versetzens und Wegsehens. Die nebenbei auch noch die Konsequenz hatte, dass die zwar intern bekannten, aber aus Gründen der „Barmherzigkeit“ nicht geahndeten Fehler Bindungen innerhalb der Amtshierarchie stärkten: ein Priester, dessen Vergehen bekannt waren, aber nicht vom Bischof geahndet wurden, fühlte sich diesem gegenüber natürlich mehr verpflichtet als je zuvor. Zumal im Fall der Fälle die Barmherzigkeit schnell zu Ende sein konnte. Die gegenseitige Abhängigkeit wird gestärkt. Der Apparat wird immer kompakter. Die Sünde nicht bekämpfen, sondern sich zunutze machen.
Die kirchliche Hierarchie wird nach innen immer gefestigter
und abgeschotteter. Und nach außen? Interessiert nicht.
Was im System der Kirche fehlte und fehlt, ist die externe
Kontrolle. Ein Unternehmen wird durch den Markt kontrolliert. Wenn die Fehler
des Managements überhandnehmen, muss es ausgetauscht werden, weil das
Unternehmen sonst wirtschaftlich kaputt geht. Die Politik wird durch den Wähler
kontrolliert. Wenn Fehler der Politiker überhandnehmen, werden sie abgewählt.
Was ist die externe Kontrolle der Kirche?
Offiziell und früher besser funktionierend: Gott. Das klingt jetzt sehr spirituell und fromm, ist aber sehr konkret gemeint. Wenn ein Amtsträger der Kirche an Gott glaubt und auch daran, sich nicht nur vor seinem direkten Vorgesetzten, sondern irgendwann auch vor seinem Herrgott verantworten zu müssen, werden gewisse Fehler nicht passieren. Ganz offensichtlich ist diese spirituelle Bindung an Gott nicht mehr im früheren Ausmaß vorhanden. Auch da war nicht alles Gold, was glänzte, aber die schweren Verfehlungen von Amtsträgern haben sich in den letzten Jahrzehnten deutlich vermehrt.
Wenn die spirituelle Spannkraft aller Gläubigen in der
Kirche nachlässt, dann geht das offensichtlich auch an den Amtsträgern der Kirche
nicht spurlos vorüber, die sich ja aus den Gläubigen rekrutieren. Fragen wir
mal so:
Ist es denkbar, dass ein Pfarrer daran glaubt, dass er sich
irgendwann vor seinem Gott verantworten muss, wenn er schutzbefohlene Kinder
jahrelang missbraucht?
Handelt ein Bischof gegenüber seinem Gott korrekt, wenn er
einen solchen Pfarrer in eine neue Pfarrei versetzt, wo die Vorwürfe nicht
bekannt sind? Im Wissen darum, dass es neue Opfer geben wird?
Man kann jetzt lange darüber spekulieren, wie und warum
genau diese spirituelle Spannkraft vieler Amtsträger nicht mehr vorhanden ist:
das Ergebnis ist eine Kirche, die sich zu wenig von außen kontrolliert fühlt.
Das Ergebnis ist eine kirchliche Hierarchie, die in weiten Teilen um sich
selbst kreist und der es um den eigenen Machterhalt geht. Das ist eine logische
Konsequenz einer Institution bzw. einer Gruppe von Führungspersonen, die sich
nicht kontrolliert fühlt.
Da eine so geleitete Kirche aus diesen Strukturen heraus
überhaupt keine einschneidenden Reformen durchführen kann, kommt Kardinal Marx in seinem Brief zu der erschütternden
Diagnose:
„Die Krise ist auch verursacht durch unser eigenes Versagen, durch unsere eigene Schuld. Das wird mir immer klarer im Blick auf die katholische Kirche insgesamt, nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Jahrzehnten. Wir sind – so mein Eindruck – an einem gewissen ‚toten Punkt‘.“
Dieser Punkt ist die Formulierung einer absoluten
Ratlosigkeit und des Wissens, als Kirche bzw. als hierarchisch geleiteter
Kirche keine Ideen zu haben, wie man aus der aktuellen Sackgasse herauskommt.
Der tote Punkt
Mit seinem Rücktrittsgesuch hat Kardinal Marx ein deutliches
Ausrufezeichen in Richtung seiner Amtsbrüder gesetzt. Was der Papst oft als „Klerikalismus“
gebrandmarkt hat („Der Klerikalismus ist die wahre Perversion der Kirche.“),
wird von Kardinal Marx nun deutlicher als systemisches und strukturelles
Versagen der Kirche öffentlich gemacht. Es ist die brutale Frage eines der
höchsten Amtsträger an sich und an seine eigene Kirche, wie ernst sie
eigentlich noch ihre eigene Botschaft nimmt, wenn diese Dinge in ihr über viele
Jahrzehnte geschehen konnten.
Diese Anklage deckt sich mit der Anklage gerade konservativer Kreise, dass die Kirche untergeht, weil sie nicht mehr spirituell genug ist, was so gedeutet wird: weil sie ihre alten Werte verraten hat. Das Problem hierbei besteht darin, dass genau diese von den alten Werten geprägte Spiritualität die autoritären Strukturen hervorgebracht hat, die zum Problem geworden sind.
Man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Unabhängig
davon, wie gut oder schlecht diese alten Werte gewesen sind: sie funktionieren
nicht mehr und jeder Versuch, sie gegen das allgemeine Wertegefühl einer
Gesellschaft – und damit der Gläubigen – durchsetzen zu wollen, stärkt die autoritären
Strukturen, die zur Zeit die Wurzel des Übels sind. Die Kirche steht in der Tat
an einem toten Punkt.
Ein Blick nach vorne
Kardinal Marx hat mit seinem Rücktrittsgesuch den Druck auf einige Amtsträger erhöht, ebenfalls zurückzutreten. Dies gilt besonders für den Kölner Kardinal Woelki, der in seinem Bistum sehr umstritten ist und von Marx und vielen anderen als Bremse notwendiger Reformen wahrgenommen wird. Indem Marx seinen Konkurrenten Woelki mitnehmen will, will er der Katholischen Kirche in Deutschland einen personellen Neustart ermöglichen – ohne die bisherigen Platzhirsche Marx und Woelki.
Ob dieses Kalkül aufgehen wird, ist völlig offen. Woelki hat
sehr schnell klargemacht, dass er nicht zurücktreten will. Zur Zeit sind zwei päpstliche
Beauftragte in seinem Bistum mit Ermittlungen beschäftigt. Das Ergebnis dieser
Ermittlungen ist völlig offen, kann aber durchaus Bewegung in die Personale
Woelki bringen.
Letztlich muss man jedoch feststellen, dass selbst ein
personeller Neustart der Katholischen Kirche in Deutschland die strukturellen
Probleme nicht ändern wird. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Bischof
Bätzing aus Limburg, hat vor einigen Tagen zu Recht das Problem in der Kontrolle
der Amtsträger erkannt. Er forderte ein „Vier-Augen-Prinzip“ in der kirchlichen
Hierarchie.
Auch dieses würde das grundsätzliche Problem der Kontrolle
der Hierarchie nicht lösen. Das eine sind die handelnden Personen, das andere
der Rahmen, in dem sie handeln (dürfen). Es wäre keine Kontrolle, die Anzahl
der handelnden Personen zu erhöhen, es geht um den Rahmen, in den das
kirchliche Amt zukünftig enger eingebunden sein muss.
Hier müssen zwei Instanzen eine zentrale Rolle spielen:
Die „normalen“ Gläubigen: die Kirche spricht
zwar immer wieder von der priesterlichen Dimension des „Volkes Gottes“, außer
Lippenbekenntnissen und faktisch machtlosen Gremien ist aber nicht viel
passiert. Wie in den ersten Jahrhunderten der Kirche üblich, müssen die
Gläubigen das Amt kontrollieren können: wer wird Bischof, wer wird Pfarrer …
und wer soll es nicht mehr sein.
Der zur Zeit in Deutschland laufende „Synodale Prozess“ wird hier sicherlich
Akzente setzen wollen, ob die in Rom genehmigt werden, ist allerdings offen.
Und damit sind wir beim Kern des Problems und der Stellung der normalen Gläubigen.
Das Recht: das Kirchenrecht ist ein vorzüglicher
Rechtskodex, uraltes, schönes, römisches Recht. Das Problem: das Amt steht über
dem Recht. Es ist immer eine Ebene vorgesehen, in der ein Amtsträger sich nicht
an das Recht halten muss, sondern „Barmherzigkeit“ walten lassen kann. Selbst
grobe Rechtsverstöße von Amtsträgern und sogar päpstlichen Behörden können
nirgendwo effektiv verklagt werden, weil letztlich das höchste Amt – der Papst –
das Recht ist. Entsprechend gibt es kein Verfassungsgericht oder ähnliche
Instanzen, die auf die Stringenz des Rechtssystems wachen. Hier muss das Amt
sich zukünftig dem Recht unterordnen, um die Kirche zu einem „gerechten“ Ort zu
machen.
Die Kirche befindet sich in der Tat an einem toten Punkt. An den ist sie – wie Marx zu Recht bemerkt – aus eigener Schuld gelangt. Nun ist es an ihr, diese Verantwortung wahrzunehmen – personell wie strukturell und mit eigener Kraft – wie Marx hofft – aus dem toten Punkt einen positiven Wendepunkt zu machen. Ob der Kirche das gelingt, ist noch offen.
Philosophen und auch Theologen denken viel und intensiv über
Werte nach: an welchen Werten orientieren sich Menschen, wenn sie handeln,
welche Werte sind gut, welche sind schlecht, welche sind tragfähig, welche
vollkommen nutzlos oder sogar schädlich?
Worüber sich Philosophen und Theologen eher weniger Gedanken
machen und was dann eher von der Soziologie oder schließlich von den
Rechtswissenschaften behandelt wird: wie setzen sich bestimmte Werte eigentlich
durch? Und wie kann ich diese Durchsetzung beeinflussen?
Diese Frage ist überaus wichtig für eine Gesellschaft im Ganzen, aber auch für einzelne Unternehmen: wenn ich will, dass bestimmte moralische Werte im Unternehmen nicht nur als bloße aufgelistete Absichtserklärung an der Wand hängen, sondern auch wirklich gelebt und umgesetzt werden.
Compliance und Wertemagement
Das sog. „Compliance“-Management regelt Umsetzung und
Einhaltung ethischer Wert und ist selbstverständlicher Bestandteil der internen
Abläufe eines Unternehmens. Um besser zu verstehen, was „Compliance“-Management
ist (und was es nicht ist!), muss man einen Blick auf das „Wertemanagement“ als
Ganzes werfen.
Das „Wertemanagement“ entstand in den 1980er Jahren in den
USA. Die Moral wurde immer klarer als Bestand der Identität eines Unternehmens
gesehen. Im Unterschied zu „Ethik“ sind „Werte“ konkret, daher sprach man von
einem „Werte“- und nicht von einem „Ethik“-Management.
Eine wichtige inhaltliche Begründung für die Entwicklung des
Wertemanagements lieferte Josef Wieland (geb. 1951).
Wieland ging von zwei verschiedenen theoretischen Grundlagen
aus, der Systemtheorie von Niklas Luhmann (vgl. ) sowie der Neuen
Institutionenökonomie von Oliver E. Williamson, die in einer
„Transaktionskostentheorie“ versucht zu klären, warum bestimmte Aktionen wie
teuer sind.
Unterm Strich ging es Wieland darum, Ethik als
wirtschaftliche und technische Größe erfassen und bearbeiten zu können.
Vor allem Luhmann war hier wichtig. Luhmann hatte die
Gesellschaft als Zusammen verschiedener Systeme begriffen, die jeweils
unterschiedliche Eigenlogiken haben und aufeinander einwirken. Die
verschiedenen Systeme haben unterschiedliche „Währungen“, durch die sie
aufeinander einwirken: in der Wirtschaft ist es das Geld, in der Wissenschaft
die Wahrheit.
Wieland greift diese Theorie auf und sieht in der Moral ein
eigenes System, das nach der Währung „gut“ – „schlecht“, bzw. „Achtung“ –
„Missachtung“ funktioniert. Entsprechend muss bei der Moral ähnlich wie bei den
anderen Systemen geschaut werden: wie findet moralische Kommunikation statt?
Worauf reagiert Moral wie? Welche Anreize gibt es bzw. welche Werte, die
Anreize schaffen?
Entsprechend geht es für ein Unternehmen darum, Strukturen und Mechanismen herauszubilden, die eine gute gelebte Moral hervorbringt.
Compliance Management System
Hier setzt das „Werte-Management“ an, das nach innen das
Handeln des Unternehmens auf eine ethische Grundlage stellen soll und nach
außen Vertrauen und Seriosität herstellen soll. Wieland beschreibt insgesamt
vier Bausteine des Wertemanagements bzw. des „Compliance Management Systems“:
1. Kodifizieren
Das Unternehmen definiert die Werte, die sein Profil und
seine Identität bestimmen. Hierbei ist es wichtig, dass diese Werte keine
Phantasiegrößen sind, sondern sich möglichst eng an der gelebten Realität des
Unternehmens befinden. Solche „Codes of Ethics“ sind mittlerweile Standards der
Unternehmen. Diese Werte beschreiben nicht den Ist-Zustand des Unternehmens,
aber seine realistischen Handlungspräferenzen: wie es ethisch handeln will und
worauf sich interne wie externe Stakeholder verlassen können.
2. Implementieren
Das Unternehmen erstellt Leitlinien für Verhaltensstandards.
Es wird geregelt, welche Kriterien der Personalauswahl und der Karriereplanung zugrundliegen,
wie mit Geschenken umgegangen werden soll, wie man sich dem Kunden gegenüber
verhält usw. Hierbei ist es wichtig, konkrete und verbindliche Regeln
aufzustellen. Die Werte in Schritt 1 sind noch nicht konkret, hier werden sie
nun konkret mit klaren Handlungsanweisungen. Hier können sie zur guten und
gelebten Routine eines Unternehmens werden.
3. Systematisieren
Die Leitlinien von Schritt 2 werden systematisiert und ins
HR Management (Human Resources) integriert. Die verschiedenen Leitlinien und
Verfahren werden in Programmen zusammengefasst und als Compliance- oder als CSR-(Corporate
social responsibility)Programme veröffentlicht. Effektive Instrumente werden
benannt und in Gang gesetzt, durch die die Durchsetzung der Leitlinien
dauerhaft gelingt.
4. Organisieren
Das bisher auf dem Papier (oder auf dem Bildschirm) Stehende
wird noch einmal konkreter durch die Organisationsebene. Ethik- und
Compliance-Beauftrage werden benannt, welche die Umsetzung der Programme
überwachen. Daneben ist die Vorbildfunktion der Leitungsebene von
entscheidender Bedeutung, die sich klar zu den Werten bekennen muss und sich
auch entsprechend verhalten muss.
Diese vier Schritte stellen ein funktionierendes
Wertemanagement eines Unternehmens dar. Kurz zusammengefasst, ist es das
Zusammen folgender notwendiger Faktoren: es muss realistische Werte geben,
diese müssen konkret in Handlungsanweisungen übersetzt werden, diese müssen
effektiv kontrolliert und durchgesetzt werden und am Schluss müssen Menschen
diese Werte durchsetzen und für sie einstehen.
Fällt auch nur einer dieser Schritte weg, muss das
Wertemanagement scheitern. Ein guter Wertekodex ohne Instrumente der konkreten
Umsetzung wird zu einem Luftschloss, Compliance-Instrumente ohne Werte im
Hintergrund zu einem Tyrannen.
Mit anderen Worten: die Ethik in einem Unternehmen braucht den Philosophen UND den Juristen.
Am letzten Dienstag verlor die Deutsche Nationalmannschaft ihr entscheidendes Spiel in der „Nations League“ gegen Spanien. Mit 0:6. Ein historische Desaster.
Die Reaktion des DFB? Erst einmal gar keine. Dann hieß es, man will prüfen. Wie man auch in den letzten Jahren nach anderen historischen Pleiten geprüft und anschließend einen Neuaufbau angekündigt hat.
In den letzten Jahren versinkt der Deutsche Fußballbund in einem tiefen Morast aus sportlicher Erfolglosigkeit, Korruptionsvorwürfen und internem Theater. Das sonst mehr als gewogene deutsche Fußballpublikum wendet sich ab. Zuerst polternd, dann gelangweilt und resigniert.
Reaktion des DFB? Man will prüfen.
Der Deutsche Fußballbund ist jedoch nicht die einzige Institution, die gerade in den letzten Tagen ein dickes Eigentor geschossen hat: der Kölner Erzbischof, Kardinal Woelki, kündigt an, das über sein Bistum angefertigte Gutachten, das sich mit den Missbrauchsfällen der letzten Jahrzehnte befasst, entgegen früherer Ankündigungen nicht zu veröffentlichen. Dass dabei die Vertreter der Opfer ihre Zustimmung geben sollten, ohne das Gutachten auch nur gelesen zu haben, ist nur noch ein Nebenschauplatz dieser traurigen Posse.
Die Öffentlichkeit reibt sich verwundert die Augen angesichts dieses völligen Unwillens, eigenes Unrecht aufzuarbeiten und transparent zu machen.
Seit Jahren geht es so. Die Deutsche Bischofskonferenz beauftragt eine wissenschaftliche Untersuchung der Missbrauchsfälle in den deutschen Bistümern und macht dann das, was man sich eigentlich nicht vorstellen kann: bricht diese Untersuchung ab mit der Begründung, dass es ja nicht angehen könnte, dass die Wissenschaftler ein Ergebnis veröffentlichen, das nicht vorher abgesprochen sei.
Nicht nur ein kommunikatives, sondern auch ein inhaltliches 0:6 der Katholischen Kirche.
Die Katholische Kirche und der DFB sind sich sehr ähnlich. Zwei Giganten taumeln ihrem Untergang entgegen. Der Zuschauer weiß nicht genau, ob die beiden überhaupt richtig gemerkt haben, was da mit ihnen passiert. Sie taumeln dem Untergang entgegen und scheinen beide in einer Schockstarre nicht reagieren zu können. Weshalb der Untergang weitergeht. Mal laut, mal leise.
Ich selbst war die meiste Zeit meines Lebens sehr tief mit diesen beiden Giganten verbunden: als Priester der katholischen Kirche und als Fan der deutschen Nationalmannschaft. Mittlerweile habe ich beiden Institutionen gegenüber ein sehr distanziertes Verhältnis, das geprägt ist von Erstaunen und Unglauben über diesen Unwillen, überhaupt zu reagieren.
Natürlich hat die Kirche in meinem Leben auf einer ganz anderen Ebene eine andere Bedeutung gehabt als der DFB. Trotzdem lohnt sich ein gemeinsamer Blick auf die beiden, weil in beiden die gleichen unheilvollen Mechanismen am Werk sind.
Ein Blick auf zwei untergehende Giganten.
Welche Faktoren sind es, die hier am Werk sind?
Grundsätzlich befinden sich die Katholische Kirche und der DFB in einem Monopol. Sie sind beide einmalig und haben eigentlich keine Konkurrenz. Natürlich gibt es auch eine Evangelische Kirche und natürlich gibt es auch andere Sportarten, aber das spielt für die beiden Monopolisten eigentlich keine große Rolle. Auch weil die Konkurrenz nicht besser dasteht. Entsprechend wandern die untreuen Katholiken und Fußballfans nicht zur Konkurrenz, sondern legen ihre Hände in den Schoß: der Kirchgang bzw. die Kirchensteuer fällt weg. Der Fußballabend mit Jogi auch.
Dies lässt das Monopol intakt erscheinen und macht es für den Monopolisten schwer, den Punkt zu erkennen, an dem man reagieren muss. Entsprechend geht es dann weiter.
Was passiert dann?
Phase 1: Macht nichts!
Zuerst kommt die „Macht nichts!“-Haltung. Gut, die Zahlen gehen runter, das kann passieren, hat es immer schon gegeben. Das wird wieder besser. Unser Produkt stimmt ja eigentlich.
Wenige Tage vor dem Spanienspiel gab der DFB-Sportmanager Bierhoff ein Interview. Tenor: eigentlich passt doch alles. Die guten Ergebnisse werden schon wiederkommen. In der katholischen Kirche gibt es seit Jahrzehnten immer wieder die Meinung: unsere Botschaft stimmt ja, es wird wieder aufwärts gehen. Und wenn nicht: geht auch. So schlimm wird es schon nicht werden.
So äußerte der damalige Kardinal Ratzinger in einem Interview mit einem Blick auf Deutschland, dass es eben passieren könnte, dass die Kirche in einem Land mal untergeht. Oder der damalige Essener Kardinal Hengsbach, der auf die leeren Kirchen angesprochen wurde: „Bitte? Ich habe noch keine leere Kirche gesehen. Wenn ich komme, ist die Kirche voll!“ Zum einen geht die Kirche nicht unter, und wenn ja, ist es auch nicht schlimm.
Phase 2: Verschleiern
Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem die Institution merkt, dass die Krise doch etwas heftiger ausfällt als erwartet und man reagieren muss. Also reagiert man. Ohne zu reagieren. Getreu dem berühmten Motto aus „Der Leopard“: alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.
Es werden Änderungen angekündigt oder auch durchgeführt, die die Leute zufriedenstellen sollen, aber nichts an der Problemlage ändern. Dann wird mal wieder ein DFB-Präsidium wegen Korruption entlassen oder Franz Beckenbauer wird ein Jahr im Fernsehen nicht interviewt. Aufarbeitung der Korruption? Fehlanzeige.
Dann tritt ein Bischof zurück wegen etwas üppiger Bauvorhaben, bekommt aber direkt den nächsten guten Posten in der Zentrale. Dann werden große Untersuchungen zu Missbrauchsfällen angekündigt, die entweder gestoppt oder nicht veröffentlicht werden. Dann werden in Rom große Kommissionen eingerichtet, Reformen in der Kirche voranzutreiben, von denen man nie wieder etwas hört.
Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.
Phase 3: Internes Zerreißen
Natürlich kann die Phase „Verschleiern“ nicht ewig dauern. Vielen wird klar: so geht es nicht weiter! Die Medien entdecken immer mehr unschöne Dinge, auch intern wird der Druck immer größer. Nun kommt die Phase des „Internen Zerreißens“: oben kämpft gegen unten, rechts kämpft gegen links, jeder gegen jeden. Beim DFB gehen die Landesverbände und die Amateurvereine an die Decke, in der katholischen Kirche zerfleischen sich Konservative und Liberale, Kleriker und Laien schieben sich die Schuld an der Krise zu.
Phase 4: Ändern oder Untergehen
Die Phase des „Internen Zerreißens“ kann zu zwei Dingen führen: der Laden fliegt komplett auseinander – es kommt zur Spaltung oder Auflösung – oder er reformiert sich. Wie es bei Sportverbänden schon Spaltungen gegeben hat, ist dieses Thema natürlich auch in der katholischen Kirche nicht völlig fremd. Martin Luther lässt grüßen.
Beide Institutionen – DFB wie Katholische Kirche – stehen an einem wichtigen Scheidepunkt. Folgendes ist inhaltlich in den letzten Jahren an der Spitze passiert: die Führungseliten beider Institutionen haben erkannt, dass es ein noch deutlicheres Signal zum Reformwillen braucht. Also wurde interessanterweise in beiden Institutionen eine Person an die Spitze gewählt, die sich sehr ähnlich sind: Papst Franziskus wie DFB-Präsident Fritz Keller waren nie Teil des internen Führungszirkels, gelten als reformorientiert, sind aber gleichzeitig nicht in der Lage, schwerwiegende strukturelle Reformen durchzuführen.
Die Wahl dieser beiden ist also durchaus eine Verlängerung der „Verschleierungstaktik“ der führenden Eliten in den beiden Institutionen. Was aber nun passiert – und so bestimmt nicht geplant war – Papst Franziskus und Fritz Keller reformieren zwar nicht strukturell ihre Institutionen, aber sie schaffen durch ihren offenen, nicht eingreifenden Führungsstil neue Diskussionsräume, die sich für ihre Nachfolger nicht mehr schließen lassen und langfristig zu dem Druck führen können, echte Reformen anzugehen.
Es ist wahrscheinlich, dass sich bei den nächsten Wahlen die alten Eliten noch einmal durchsetzen, um wieder „für Ruhe zu sorgen“. Durch die neue, offene Diskussionskultur wird das aber nicht mehr möglich sein. Dann entscheidet sich, in welche Richtung sich die Institution entwickelt: Ändern oder Untergang. Dann kommt entweder die Zeit tiefgreifender Reformen oder der Absturz.
Katholische Kirche und DFB
Die oben beschriebenen Phasen laufen natürlich nicht immer so klar und deutlich voneinander abgrenzbar ab. Es gibt Teile des DFB oder der Kirche, die sind schon bei Phase 4 (dann treten sie aus) oder bei Phase 2. Diese Phasen verschwimmen oft und diese Ungleichzeitigkeiten befeuern natürlich die Konflikte.
Letztlich leiden beide Institutionen daran, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse so geändert haben, dass Reformen nötig sind, um die alte gesellschaftliche Größe und Bedeutung zu erhalten. Beide Institutionen werden von einer Führungsschicht geleitet, die nicht von außen eingesetzt wird (wie in der Politik durch Wahlen oder in der Wirtschaft durch den Markt), sondern intern sich selbst erneuert: Kooptation.
Dies führt zu einer Elite, die logischerweise konservativ ist, insofern sie den Status quo der Institution (und dabei auch ihren eigenen) bewahren will. In bestimmten Mechanismen lädt sich Druck auf, den die führenden Leiter der Institutionen schrittweise entladen wollen. Was auf Dauer nicht funktioniert.
Es ist schwer, Prognosen für die beiden Institutionen abzugeben. Dazu braucht es nicht nur eine genaue Analyse des Problems. Die liegen seit Jahren – im Falle der katholischen Kirche seit Jahrzehnten – auf dem Tisch. Die Frage ist, ob diese Analysen auch in der Führungsetage der Institutionen als gültig anerkannt werden, damit tiefgreifende Reformen möglich sind, die die Probleme auch lösen, die zur Krise führen.
Letztlich ist es leider ein schnöde Machtfrage. Es geht nicht um die Inhalte (die liegen auf dem Tisch), sondern um die Macht, über Inhalte zu entscheiden. Das Ergebnis in beiden Institutionen wird ganz wesentlich davon abhängen, ob die „Reformer“ den Durchhaltewillen und die Durchsetzungsfähigkeit haben, diesen Kampf für sich zu entscheiden. Dazu braucht es vor allem mehr Organisationfähigkeit als bisher, weil die logischerweise immer mehr in der Führungsschicht der Institition vorhanden ist.
Beide Institutionen sind aufgrund ihrer Monopolstellung Sonderfälle. Dies gilt natürlich in besonderer Weise für die Katholische Kirche mit ihrer Größe und ihrer Geschichte. Die Mechanismen, denen sie aber unterliegen, sind in jedem Unternehmen, Verband, Verein und jeder Partei vorhanden. Überall geht es darum, wer wie Entscheidungen für die gesamte Gruppierung treffen kann, wie Veränderungen durchgeführt oder verhindert werden.
Jedes Unternehmen und jede Gruppierung braucht die gesunde Balance zwischen einer ausreichenden Veränderungsbereitschaft, aber auch dem Wissen um eine eigene, nur schwer veränderbare Identität, ein Profil. Was Teil der Identität ist und was verändert werden muss: die Fähigkeit, das zu erkennen, entscheidet über das Leben eines Unternehmens oder eines Vereins. Und diese Fähigkeit wird auch über das Leben des DFB und der katholischen Kirche entscheiden.
Herr Müller, Sie hatten die Idee, das Thema „Christliche
Werte“ für Unternehmen anzubieten. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Ich arbeite nun schon seit mehr als 30 Jahren als
Theologe in der sogenannten „freien Wirtschaft“. In dieser Zeit hat sich viel gewandelt
im Bereich Marketing, Vertrieb, Unternehmenskultur, Führung,
Mitarbeitermotivation und vieles andere mehr. Da habe ich viele Moden kommen
und gehen sehen. Die meisten kamen schnell und waren noch schneller wieder
verschwunden. Zurzeit stehen Themen wie „Agilität“, „Digitalisierung“ u.a. im
Vordergrund. Hier wird sich viel verändern in den Unternehmen. Das verunsichert
die Menschen massiv. Die „christliche Werte“ hingegen sind eine quasi
überzeitliche Konstante. Sie betreffen nicht Strukturen, sondern sie betreffen
den Umgang der Menschen miteinander. Ich habe in meinem Arbeitsleben erfahren,
dass das konkrete „Leben“ christlicher Werte den Unternehmen und ihren
Mitarbeitern gutgetan haben. Ökonomisch wie menschlich. Dazu kommt, dass ich
als Moraltheologe auch die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Werte kenne und
auch von hier her begründen kann, warum sie praktikabel und nützlich sein
können.
Herr Rasche, auf die Anfrage von Herrn Müller hin haben Sie
sich schnell entschlossen, mitzumachen. Was waren Ihre Beweggründe?
Zuerst natürlich der
Grund, dieses Thema sehr gut zu kennen und auch darum zu wissen, dass es in
unserer Gesellschaft einen großen Bedarf an ethischer Orientierung gibt. Das
Christentum hat hier eine Botschaft, die immer noch ein sehr großes Potential
entfalten kann. Wir müssen uns nicht über die Schwächen des Christentums
unterhalten. Die aktuelle Krise der beiden großen christlichen Kirchen ist ja
kein Zufall. Trotz allem gehört das Christentum zur kulturellen DNA Europas.
Europa wurde ganz entscheidend vom Christentum mitgebaut. Ich bin zutiefst
davon überzeugt, dass eine Orientierung an diesen christlichen Wurzeln sehr
viel Gutes bewirken kann, nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für die
Wirtschaft.
Sie waren viele Jahre katholischer Priester. Wie muss man
sich Ihre Haltung gegenüber dem Christentum jetzt vorstellen? Enttäuscht oder
noch immer begeistert und missionarisch?
Weder noch. Ich war 15
Jahre als katholischer Priester tätig. Diese Zeit war überwiegend sehr schön und
trotzdem habe ich natürlich auch vieles in der christlichen Praxis
kennengelernt, das mich immer mehr von meinem Beruf als Priester und auch von
der Kirche distanziert hat. Ich bereue diese 15 Jahre nicht, aber ich habe eine
bewusste Entscheidung getroffen, das Priesteramt aufzugeben. Ich hasse die
Kirche nicht, weil sie mir eine Zeit meines Lebens geraubt hätte, aber ich
missioniere auch nicht für sie. Es geht mir nicht um Mission, sondern um
Information.
Wenn Sie nicht missionieren, worum geht es Ihnen dann?
Ich vertrete ein
bestimmtes Menschenbild, das vom Christentum und von der Europäischen
Aufklärung geprägt ist. Das Christentum beschreibt den Menschen in seiner
unverlierbaren Würde, die Europäische Aufklärung beschreibt den Menschen als
Wesen, das in der Lage ist, selbstbestimmt zu leben und seine Vernunft zu
gebrauchen. Als Priester und als Professor für Philosophie bin ich mit beiden
Traditionen mehr als vertraut: Ich habe sie erforscht, gelehrt und gelebt. Und
das möchte ich weitergeben, weil diese Traditionen auch heute wichtige
Orientierung geben können: gesellschaftlich wie unternehmerisch.
Herr Müller, Sie haben ja mehrere Jahre im Marketing
gearbeitet. Sind christliche Werte marketingtauglich?
Eine Binsenweisheit des Marketings lautet „All business
is personal“. Es geht um die Menschen und ihre Bedürfnisse. Wer erfolgreich
Marketing betreiben will, muss die Bedürfnisse seiner Kunden kennen. Das
Christentum wäre nie zur Weltreligion geworden und hätte nie 2000 Jahre
überlebt, wenn es nicht elementare menschliche Bedürfnisse angesprochen hätte.
Als Petrus der erste „Papst“ in Rom wurde, saßen noch die römischen Kaiser auf
dem Thron. Inzwischen haben wir tausende von Herrschern weltweit erlebt – und
in Rom sitzt immer noch der Papst auf dem Stuhl Petri. Wenn also eine
Institution erfolgreich Marketing betrieben hat seit 2000 Jahren, sind das die
christlichen Kirchen, die die menschlichen Bedürfnisse global und zu allen
Zeiten erfolgreich angesprochen haben. Und sie sind immer noch erfolgreich. Man
darf den gegenwärtig kümmerlichen Zustand der Kirchen in Europa nicht auf die
Weltkirchen übertragen. In anderen Ländern und Kontinenten wächst die Kirche
weiterhin.
Herr Müller, was ist dann genau der Inhalt, auf den es
ankommt? Was macht den „Erfolg“ der christlichen Werte aus?
Die Kernbotschaft des Evangeliums ist die Nächstenliebe. Das ist die Basis jeder christlichen Ethik. Und es ist die Basis für das, was ich „gelingendes Miteinander“ nennen möchte. Das gilt im Arbeitsleben wie im Privatleben. „Nächstenliebe“ klingt ein wenig dick aufgetragen, aber dahinter steht die Grundoption, seinem Mitmenschen auf Augenhöhe zu begegnen, ihn als Menschen nicht abzuwerten, ihm empathisch zu begegnen. Im beruflichen Kontext bedeutet dies ein Miteinander mit gegenseitiger Achtung, gegenseitigem Vertrauen, Verantwortung füreinander, Ehrlichkeit im Umgang und das, was wir Theologen „Vergebung“ nennen. Wem das zu hoch gegriffen erscheint, der kann es auch Konfliktgestaltung nennen. Im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums wird das sehr anschaulich beschrieben: „Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde“. Setzen Sie das mal in einer Firma um! Dann sind sie schon sehr weit!
Coaching ist omnipräsent. Es geht um die Steigerung der
Leistungsfähigkeit und der Kompetenzen von Mitarbeitern oder
Führungskräften, um die Entwicklung der Persönlichkeit, um die
Entfaltung neuer Potentiale.
Dass das Coaching eine ethische Dimension hat, dürfte relativ
unumstritten sein. Normalerweise wird die vorrangig bei dem verortet,
der gecoacht wird: wie kann er besser ethische Werte vermitteln, an
welchen Werten orientiert er sich eigentlich selbst, unter welchen
Werten leidet er usw.
Mindestens genauso wichtig ist allerdings die ethische Einstellung
des Coaches selbst. Und dabei geht es nicht nur darum, Mandanten
abzulehnen, die Waffen produzieren oder ein Bordell besitzen, sondern
ganz prinzipiell darum, welches Menschenbild der Coach eigentlich hat
und wie dieses Menschenbild sich im Coachingprozess abbildet.
Natürlich hat jeder Coach auf seiner Homepage stehen, dass es ihm um
den Menschen geht, dass er den Menschen helfen will, mit seinen
Problemen fertig zu werden, dass es ihm um das Wohlergehen der Menschen
geht usw.
Aber was heißt das? Es gilt, genauer hinzuschauen.
NLP – Neuro-Linguistisches Programmieren
Nehmen wir die wohl zur Zeit im Coaching-Bereich die am weitesten
verbreitete Methode, das „Neuro-Linguistische Programmieren“ (NLP).
Bereits an dem Titel des Coachings taucht ein sehr grundsätzliches
Problem auf, das ethisch durchaus heikel ist:
Was heißt denn „Programmieren“?
Welches Menschenbild habe ich eigentlich, wenn ich glaube, man könnte einen anderen Menschen „programmieren“?
Sehe ich im anderen Menschen eine Maschine, die ich in einer bestimmten Weise „programmieren“ kann, damit sie wieder effizient arbeitet? Das Wort „Programmieren“ mag ja in vielseitiger Weise deutbar sein, eines ist aber eindeutig: dasjenige, was etwas einprogrammiert bekommt, ist nur ein Ding, das einen neuen Inhalt, eine neue Software erhält, “aufgespielt” bekommt.
Zu drastisch?
Das „Neuro-Linguistische Programmieren“ hat ja bereits im Titel
verankert, worum es geht: um die Annahme, dass Vorgänge im Gehirn
(Neuro) durch die Sprache (linguistisch) programmiert werden können.
Es ist unumstritten, dass die Sprache große Macht über unser Denken hat, aber was heißt das denn, dass ich durch die Sprache mein Denken umprogrammieren kann? Verändern: ja. Aber „umprogrammieren“? Geht das immer?
Alles ist erlernbar.
Der Dachverband des NLP ist da eindeutig: prinzipiell schon. So heißt es auf der Homepage des DVNLP:
„Alles, was ein Mensch kann, ist erlernbar. Alles ist
erreichbar, wenn die Aufgabe in hinreichend kleine Schritte unterteilt
wird. Die gewohnheitsmäßige Abfolge von Denk- und Verhaltensvorschriften
ist änderbar. Es kommt zur Flexibilisierung und zum Neulernen.“
Neben der ethischen Frage, was da für ein Menschenbild hintersteckt,
wenn der Mensch „programmiert“ werden soll: sind die Annahmen überhaupt
richtig, dass „alles erlernbar“ ist? Das gewohnte Verhaltensmuster immer änderbar sind?
So einfach ist es nicht. Jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch hat
seine eigene Biographie, seine eigene Identität. Die sind nicht vom
Himmel gefallen, sondern im Laufe eines Lebens gewachsen. Natürlich kann
ein Mensch sich im Laufe seines Lebens ändern, aber nicht derart
fundamental und radikal, wie der Dachverband des NLP dies suggeriert.
Das
NLP geht davon aus, dass das menschliche Gehirn wie eine Festplatte
funktioniert. Wenn es da einen Software-Fehler gibt, wird eine neue
Software draufgespielt. Abgesehen davon, dass NLP damit dem Menschen
keine größere Würde als die einer Festplatte zuspricht: das mit der
neuen Software funktioniert nicht.
Und das ist auch gut so. Denn jeder Mensch hat seine eigene Identität
und Würde, und die hat auch mit seiner Geschichte, seinen Stärken und
Schwächen zu tun. An sich und seinen Schwächen zu arbeiten und in seinem
Leben Veränderungen vorzunehmen: richtig. Aber alles auf den Kopf
stellen zu wollen? Abgesehen davon, dass das gar nicht geht: kann man
das wollen, seine Biographie auszulöschen?
Was passiert im NLP beim Re-Framing: die eigene Biographie wird aus
einer neuen, positiven Perspektive betrachtet. Das ist gut und kann
helfen. Aber es ist ein sehr schmaler Grat zwischen einer neuen
Perspektive auf das eigene Leben, welche die Dinge positiver sieht und
neue Möglichkeiten eröffnet, und einer Perspektive, die alles Negative
auslöscht – was zum einen wenig Achtung vor der Biographie des Mandanten
zeigt und zum anderen das Negative weiter arbeiten lässt.
Die Schwächen und Fehler gehören zum Menschen dazu. Man kann aus
diesen Fehlern lernen, aber man kann nur dann aus ihnen lernen, wenn man
sie erkannt und bearbeitet hat.
Es ist sehr schmaler Grat zwischen einem gelungenen Coaching, das
positive Impulse setzen kann, und einem Coaching, dass den Menschen als
neu zu programmierende Maschine sieht, aus der alle negativen Daten zu
löschen sind. Ein sehr schmaler Grat, um den man wissen muss.
Wenn der Anspruch erhoben wird, „alles“ umprogrammieren zu können:
was passiert, wenn das nicht klappt? Der Schuldige ist automatisch der
Mandant, weil er es nicht kapiert oder nicht kapieren will. Was bei
Menschen, die eh unter Versagensängsten leiden, durchaus verheerende
Konsequenzen haben kann.
Würde des Menschen
Diese Problematik ist nicht nur beim NLP gegeben, sondern ein
Grundproblem heutigen Coachings. Um nicht missverstanden zu werden: es
gibt viele gute Coaches, die im Sinne ihrer Mandanten arbeiten, von der
Würde des Menschen zutiefst überzeugt sind und alles dafür tun, dass es
dem Mandanten gut oder wieder besser geht.
Aber eine Grundgefahr schwingt immer mit und auf die muss man
aufpassen: den Menschen, so wie er ist, ernst zu nehmen. Anzuerkennen,
dass die eigene Methodik – welche es auch immer sei – ihre Grenzen hat.
Und vor allem: dass auch durch noch so viel Motivation und noch so
viel gedankliche Anstrengung nicht immer alles beim Menschen möglich
ist.
Probleme haben zumeist Ursachen. Die kann man nicht wegdenken.
Vielleicht verdrängen, aber auch nur vorübergehend. Sie bleiben und sie
wirken weiter. Wegdenken ist nicht Bearbeiten.
Natürlich ist jeder dazu aufgerufen, immer wieder zu schauen, ob das
eigene Leben für einen glücklich und sinnvoll ist und im Bedarfsfall
auch zu schauen, was man an sich ändern muss. Ein Leben bleibt nie
stehen, sondern entwickelt sich weiter.
Trotzdem hat dieses Leben auch an sich einen Wert. Ob es jetzt mit
großen Fähigkeiten gesegnet ist oder nicht. Ob man sich verändern kann
oder nicht.
Wahrnehmung und Wirklichkeit
Das NLP und viele andere Coaching-Methoden formulieren die These,
dass die Wahrnehmung und die sprachliche Verarbeitung der Wirklichkeit
die Wirklichkeit ändert.
Das ist teilweise korrekt. Wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen, entscheidet darüber, wie wir sind.
Aber eben nicht vollständig:
weder ist die Wirklichkeit vollständig wahrnehmbar, noch vollständig beherrschbar,
noch ist der Mensch in der Lage, seine eigene Wahrnehmung der Wirklichkeit oder sein Denken vollständig zu kontrollieren,
noch ist der Mensch in der Lage, durch seine Wahrnehmung oder sein Denken sich selbst vollständig zu kontrollieren.
Neutralität?
Das Coaching formuliert immer wieder den Anspruch, neutral zu sein.
Diese Neutralität gibt es nicht und es kann sie nicht geben.
Weil jede Methode und allgemein jeder Umgang mit einem anderen
Menschen (und das ist Coaching) nie ganz neutral sein kann, sondern
immer von bestimmten Voraussetzungen lebt: unter anderem von dem Bild,
das ich vom Menschen an sich habe.
Und hier gibt es in Teilen der Coaching-Praxis Dinge, die ethisch
sehr bedenklich sind und das Bild eines Menschen zeichnen, der letztlich
als programmierbare Maschine gesehen wird, ohne Rücksicht auf seine
Biographie, auf seine Fähigkeiten, auf seine Stärken und Schwächen, auf
seine Identität. Und damit auf seine Würde. Diese Dinge sind leider
nicht selten und sie entsprechen – wie beim NLP – auch der Ideologie,
die hinter einer Methode steckt.
Was ist der Mensch?
Dieses Bild des Menschen, das die Grundlage vieler Coachings liefert,
ist auch das Bild, dass sich das Unternehmen vom Mitarbeiter wünscht:
arbeiten wie eine Maschine, verlässlich, effizient, allen
Herausforderungen gewachsen, auf alle gewünschten Fähigkeiten
trainierbar.
Viele
Coaches und viele Coaching-Methoden versprechen eine solche
„Programmierung“ des Mitarbeiters, und viele Unternehmen schätzen genau
aus diesem Grunde solche Coaching-Prozesse.
Damit ist klar, dass das ethische Problem des Coachings letztlich ein
gesellschaftliches Problem ist: Was für einen Menschen wollen wir
haben? Wie soll der aussehen? Wird der Mensch auf seine Funktionalität
hin und über seine Fähigkeiten definiert oder über etwas anderes?
Dies sind die großen Fragen unserer Gesellschaft. Aber es sollten auch die Fragen eines Coaches sein.
Digitalisierung, Arbeit 4.0, VUCA und Agilität sind die großen Stichworte des neuen Arbeitslebens. Sie alle stehen für tiefgreifende Veränderungen, die auf die Unternehmen zukommen. Diese Veränderungen müssen von den Unternehmen zum einen inhaltlich gefüllt werden, zum anderen erfordern sie eine neue Selbstreflexion darüber, was denn die Basis und was die Identität des eigenen Unternehmens ist.
Erst eine Kenntnis dieser eigenen Basis erlaubt erfolgreiche und tragfähige Veränderungen. Diese Basis besteht nicht nur aus den Produkten und den äußeren Strukturen des Unternehmens, sondern auch aus seiner Unternehmenskultur und aus den Werten, die im Unternehmen gelebt werden.
Erst eine Kenntnis dieser eigenen Basis erlaubt erfolgreiche und tragfähige Veränderungen. Diese Basis besteht nicht nur aus den Produkten und den äußeren Strukturen des Unternehmens, sondern auch aus seiner Unternehmenskultur und aus den Werten, die im Unternehmen gelebt werden.
Das Christentum verfügt über ein Wertesystem, das seit 2000 Jahren die moralische Grundlage der europäischen Kultur darstellt und auch heute prägend sein kann für die moralische Gestaltung der Unternehmenskultur, insbesondere des Leitungs- und Führungsverhaltens in den Unternehmen.
Unternehmen und insbesondere Führungskräfte in den Unternehmen müssen klären, wie sie zukünftig arbeiten und leben wollen. Hier kann das christliche Wertesystem auch heute wichtige Impulse setzen. Veränderungen setzen eine Basis voraus, auf der sie stattfinden können. Diese Basis können die christlichen Werte sein.
Hierbei ist wichtig: es geht weniger um die ethische Praxis der Kirche, die ja leider immer wieder in die Schlagzeilen kommt. Es geht vielmehr um das Wertegerüst, das das Christentum hervorgebracht hat und das zur DNA der europäischen Kultur und Ethik gehört. Hier liegen durchaus Schätze, die man wieder neu entdecken kann.
Werte
Das Christentum spricht ganz fundamental von der „Nächstenliebe“, die einen Grundwert darstellt. Die Aufforderung Jesu, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist sicherlich der Kern der christlichen Botschaft, das Markenzeichen des Christentums schlechthin. Dieser christliche Grundauftrag hat wichtige Konsequenzen für verschiedene Felder beruflichen und unternehmerischen Lebens.
1.) Respekt
Ganz grundsätzlich geht es erst einmal darum, dem Mitmenschen respektvoll gegenüberzutreten. Jeder Mensch – so die christliche Lehre – ist von Gott geschaffen und deshalb mit einer unverlierbaren Würde ausgestattet. Unabhängig davon, ob man den religiösen Glauben an einen Gott teilt, ist hier ein wichtiges Fundament, jedem Mensch einen Wert und eine Würde zuzuschreiben. Dies bedeutet, den Mitmenschen auch entsprechend gegenüberzutreten und sie so zu behandeln.
Ein Mitarbeiter soll Leistung bringen, aber er wird nicht nur über Leistung definiert. Man soll an seinen Fehlern und Schwächen arbeiten, aber man wird durch Fehler und Schwächen kein Mensch 2. Klasse. Das Gegenüber spürt, ob man ihn als Menschen respektiert oder ob man in ihm nur eine funktionierende Nummer sieht. Dieser Unterschied ist wesentlich für ein dauerhaftes Miteinander.
2.) Verantwortung
Den Mitmenschen nicht nur über seine Leistung zu definieren, sondern über seine unverlierbare Würde, beinhaltet auch eine bestimmte fürsorgende Haltung, eine Haltung, die darum weiß, für das Leben des anderen eine bestimmte Verantwortung zu besitzen. Dies bedeutet ausdrücklich nicht, dass jemand nicht in erster Linie für sein eigenes Leben verantwortlich ist. Trotzdem besitzt man auch eine Verantwortung für das Leben der Menschen, mit denen man zusammen lebt und arbeitet. Überall da, wo es ein Miteinander gibt, sind beide Seiten auch für dieses Miteinander verantwortlich. Dies gilt besonders dann, wenn es irgendeine Form von Abhängigkeiten gibt, etwa die Abhängigkeit des Angestellten von seinem Vorgesetzten. Hier ist der Vorgesetzte in besonderer Weise dazu aufgefordert, sich seiner Verantwortung für den Mitarbeiter bewusst zu sein. Eine solche abhängige und somit nicht gleichberechtigte Beziehung erfordert auch entsprechendes verantwortungsvolles Verhalten.
3.) Vertrauen
Das Wissen um die Würde des Mitmenschen erfordert nicht nur Fürsorge und Mitverantwortung, sondern auch Vertrauen in seine Fähigkeiten. Der Mitmensch hat einen Vertrauensvorschuss verdient und hat nur so die Möglichkeit, seine Fähigkeiten frei zu entfalten. Die gegenteilige Haltung würde Misstrauen und Kontrolle hervorbringen. Natürlich darf nicht vollständig auf Kontrollmechanismen verzichtet werden, dennoch ist es offensichtlich, dass zuviel Kontrolle jede Art von Eigeninitiative abwürgt. Gerade in Zeiten, in denen in den Unternehmen Flexibilität und Agilität gefordert sind, muss man sich der Tatsache bewusst sein, dass diese Faktoren eine große Freiheit der Mitarbeiter und damit großes Vertrauen seitens der Leitungsebene erfordern.
3.) Soziales Engagement
Das soziale Engagement, der Wille, armen und notleidenden Menschen zu helfen, ist seit jeher das Aushängeschild des Christentums. Selbst vor 2000 Jahren, als das Christentum von den Römern verfolgt wurde, waren viele Zeitgenossen beeindruckt von der Hilfsbereitschaft, mit sich die christlichen Gemeinden um die gekümmert haben, die hilfsbedürftig waren. Sich an christlichen Werten zu orientieren, soll auch ein nach außen sichtbares Handeln hervorbringen, in dem deutlich wird, dass es einem Unternehmen nicht nur um eigenen Profit geht, sondern auch um eine soziale Verantwortung und um Mitgestaltung der Gesellschaft.
4.) Ehrlichkeit
Ehrlichkeit beinhaltet ganz verschiedene Aspekte: zum einen den Willen, die Wahrheit zu sagen und nach außen ehrlich zu sein. Erst einmal geht es aber darum, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein: die eigenen Stärken und Schwächen realistisch einzuschätzen und sich diesen Stärken und Schwächen entsprechend zu verhalten. Authentizität ist anders nicht erreichbar. Wenn es darum geht, ein Profil und eine Identität glaubwürdig nach außen weitergeben zu können, müssen sie erst einmal ehrlich gegenüber sich selbst erarbeitet und erkannt werden.
5.) Demut
Demut darf nicht verwechselt werden mit Unterwerfung oder mit einem irgendwie anbiederndem Verhalten. Bei der Demut geht es fundamental darum, sich selbst und die eigenen Anliegen nicht zum Mittelpunkt der Welt zu machen. Man selbst ist nicht alles, was zählt. Man macht Fehler und ist nicht allwissend. Die christliche Tradition spricht von Demut, wenn es darum geht, dass man sich selbst gegenüber Gott klein machen soll. Unabhängig von dieser religiösen Komponente weist die Demut darauf hin, dass es Situationen gibt, in denen man gegenüber dem Unternehmen und dem Mitarbeiter auch zurückstehen muss. Dabei geht es nicht darum, sich vom Unternehmen ausbeuten oder vom Mitarbeiter ausnutzen zu lassen, sondern darum, für sich eine Haltung zu gewinnen, die nicht nur dem eigenen, sondern auch dem Anliegen des Anderen Raum lässt.
6.) Vergebung
Jeder Mensch macht Fehler. Die Frage ist, wie man mit Fehlern umgeht: sowohl mit den eigenen Fehlern, als auch mit den Fehlern der anderen. Die christliche Tradition spricht hier von Vergebung. Vergebung meint nicht, alles hinzunehmen und zu akzeptieren, was einem von den Mitmenschen angetan wird. Die christliche Tradition fügt hier hinzu, dass der Vergebung Reue vorausgehen muss. Es geht also nicht darum, immer alles zu verzeihen, sondern da Vergebung zu gewähren, wo der Mitmensch seine Fehler erkannt hat und ihm diese Fehler ehrlich leid tun. Auch das Miteinander im Arbeitsleben und im Unternehmen ist auf solche „Vergebung“ angewiesen, auf solche Punkte, bei denen man wieder bei Null startet und die alten Geschichten, die die Gegenwart belasten, beiseite schiebt.
7. Mensch im Mittelpunkt
Gegenüber den zahllosen religiösen Gesetzen und Geboten seiner Zeit hat Jesus die Haltung gesetzt: Nicht der Mensch ist für das Gesetz da, sondern das Gesetz für den Menschen. Da, wo das Gesetz zum Hindernis des Menschseins wird, ist es nicht legitim. Es soll dem Menschen helfen. Dies gilt auch heute für Vorschriften, Regeln und Gesetze, die oft auch das Miteinander im Unternehmen eher belasten und befördern. Gerade von Führungskräften wird hier ein entsprechendes Augenmaß verlangt, darum zu wissen, wann eine Vorschrift gegenüber der menschlichen Situation zurückstehen muss und wann nicht. Vorschriften und Regeln sind notwendig, um das Zusammen von Menschen zu regeln und irgendwie kontrollierbar zu machen.
Dennoch muss man darum wissen, dass auch diese Vorschriften und Regeln ihre Grenzen haben, und diese zu erkennen, erfordert Erfahrung und Fingerspitzengefühl. Eine Vorschrift ist kein Selbstzweck, sondern dient einem bestimmten Anliegen. Um dieses geht es, nicht um den Wortlaut der Vorschrift.
Fazit:
Das Christentum verfügt über einen seit 2.000 Jahren gewachsenen
Wertekanon, der das menschliche Zusammenleben auf eine moralische
Grundlage stellt und der auch heute für die Gestaltung einer gelebten
Unternehmensethik wichtige Impulse bieten kann.
Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass es nicht um die ethische Praxis der Kirchen geht, sondern um den Wertekanon, der dem Christentum zugrundeliegt (und an dem das Christentum leider selbst oft scheitert) und der – ob man will oder nicht – zur DNA der europäischen Kultur gehört. Ein neues Nachdenken über die christlichen Werte ist daher ein Entdecken der eigenen kulturellen Wurzeln, was gerade in Zeiten wichtig ist, in denen alles durcheinander zu geraten scheint und man vor Digitalisierung, Agilität und VUCA nicht mehr weiß, woher man kommt und wohin man will.